Als er Meyer erreichte, äußerte er eine ziemlich belanglose Mitleidsbekundung, öffnete dann zunächst langsam die rechte Handfläche und streckte sie freundschaftlich seinem alten Bekannten hin.
Meyer musterte Georg einen Augenblick zu lange. Dann nickten sich die Männer unmerklich zu und Meier schlug ein. Der Händedruck war abartig und ein stechender Schmerz durchfuhr zuerst die Finger und dann den rechten Unterarm. Das Knacksen war beinahe eine logische Folge.
„Oh, ich bin auch sehr erfreut, dich nach so langer Zeit mal wieder zu sehen, Hermann“, sagte Georg mit sanfter Stimme, wobei er kaum merklich den Mund verzog und seine Finger vorsichtig schüttelte, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung war.
Meyer grunzte zustimmend. Seine hübsche, junge Begleiterin war vorsorglich knapp zwei Meter zurückwichen, was Georg nicht entgangen war.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, meinte Georg.
Meyer zuckte gleichgültig die Schultern.
„Das Leben ist voller Rätsel. Wir wissen nie, was in den Anderen wirklich vor sich geht“, antwortete er in perfektem Hochdeutsch, obwohl er Schwabe war.
Wohl wahr, dachte Georg.
„Ich hoffe, dass deine Forschungsprojekte jetzt nicht gefährdet sind, weil deine wichtigste Mitarbeiterin nicht mehr unter uns weilt.“
Bei „wichtigster Mitarbeiterin“ verriet sich Meyers junge Begleitung durch ein Lächeln.
„Es wäre ein Jammer, wenn dir dadurch der Nobelpreis durch die Lappen gehen würde.“
Meyer schien die Bemerkung ernst zu nehmen.
„So tragisch es ist, aber ‚The show must go on‘, wie es so treffend heißt“, entgegnete er kalt. „Mit Ereignissen wie diesen müssen wir ständig rechnen. Das darf doch nicht unsere Forschungsagenda, unser Streben nach Fortschritt für die Menschheit, wissenschaftlicher Exzellenz und unserem Trachten nach Preisen und Auszeichnungen durcheinanderbringen.“
Er runzelte vielsagend die Stirn.
„Bei allem Mitgefühl, aber das wäre nicht professionell“, fuhr er fort. „Und schließlich ist es kein Geheimnis, dass jeder von uns ersetzbar ist. So funktioniert der technokratisch ausgerichtete Turbokapitalismus nun mal, ob uns das schmeckt oder nicht. Jeder von uns ist ersetzbar“, schloss Meyer sein Mantra.
Bei diesen Aussagen erinnerte sich Georg an eine Menge bedeutsamer Gründe, die es ihm seit jeher schwer gemacht hatten, mit Meyer wirklich warm zu werden.
„Darf ich dich und deine entzückende Begleitung noch zu einem Lunch einladen? Ich würde gerne mit dir ein wenig über die alten Zeiten und Friedas schrecklichen Unfall plaudern.“
Sommer warf einen flüchtigen Alibi-Blick auf seine Omega Speedmaster.
„Frau PD Dr. Dr. Roll und ich müssen dringend zu einer wichtigen Sitzung. Das verstehst du sicherlich, obwohl du ja vermutlich immer noch keinen Lehrstuhl hast. Oder gibt es inzwischen eine Stiftungsprofessur für platonischen Idealismus?“, schoss er kichernd eine Spitze ab.
Schnell biss sich Georg auf die Zunge, um keine Reaktion zu zeigen. Bei Meyers erstem Teil der Aussage fiel ihm unweigerlich das Stichwort „Besetzungscouch“ ein, obwohl das alles nicht zusammenpasste. Wieso hatte Roll einen Privatdozenten-Titel, aber keine Junior-Professur inne? Wollte Meyer sie länger und in eine massive Abhängigkeit bringen? Oder hatte er ihr als Rettungsring eine Stelle an seinem Institut angeboten, damit sie ihm ewig ‚dankbar‘ sein musste?
„Aber vielleicht sehen wir uns auf dem Princeton-Kongress in knapp zwei Wochen“, retournierte Georg.
Meyer nickte.
„Auch wenn wir dort unterschiedlichen Lagern angehören werden. Du weißt genau, wo ich bei der Frage ‚Climate Change – Fake or Threat?‘ zu verorten bin. Mir geht das hysterische Geschnatter auf den Geist. Vor 40 Jahren hieß es, dass der ganze Wald sterben würde und so weiter. Deshalb befinde ich mich in Sachen Klimawandel sozusagen am anderen Ufer als du.“
Georg schenkte dem geschmacklosen Witz keine Beachtung.
„Du hast schon immer einen Hang zum Materiellen gehabt“, zahlte Georg ihm die Spitzen zurück.
Er nickte Frau Roll und Meyer zu.
„Wunderbar, wir sprechen uns dann“, schloss er den Dialog und ging ohne weiteren Körperkontakt Richtung Ausgang des Friedhofs.
Hier hatte er genug gesehen und gehört. Er musste die Eindrücke erst mal verarbeiten.
Bereits in Potsdam hatte er schon beschlossen gehabt, noch länger in Deutschlands Süden zu verweilen, um dem Rätsel von Friedas Tod auf die Spur zu kommen. Denn er war interessiert daran, Friedas Wohnort und ihren Arbeitsplatz unter die Lupe zu nehmen, um möglichst viel über ihre Persönlichkeit herauszufinden. Aber bitte ohne Meyer. Dieser durfte nichts von seinen Aktivitäten mitbekommen. Denn Meyer mochte es zwar zu mehr wissenschaftlicher Visibility gebracht haben als er, aber in Sachen Kriminalistik ließ er sich von ihm nicht vorführen. Und Georg war sich sicher, dass Meyer noch so manches Geheimnis hütete, das in direktem Zusammenhang mit Friedas überraschendem ‚Unfall‘ stand. Was zu beweisen war. Er war sich außerdem sicher, dass er durch seine Ermittlungen neue Spuren hinsichtlich Friedas Tod ans Tageslicht bringen würde.
Die Untersuchung von Friedas Arbeitsplatz war aber ergebnislos und reichlich unspektakulär verlaufen. Ein gelangweilter Doktorand, der als einziger auf dem Stockwerk anzutreffen war, hatte ihm ohne Worte die Türe zu Friedas Büro geöffnet und sich mit den Worten „Geben Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind. Um 18 Uhr beginnt der Uni-Fußball!“ verabschiedet. Das offensichtliche Maß an Laxheit und Gleichgültigkeit schockierte ihn.
Schließlich war Frieda eine noch wenig bekannte, aber durchaus ernst zu nehmende Forscherin gewesen. Durch den freien Zutritt zu ihrem Büro wäre es leicht möglich, sich ihre Forschungsergebnisse illegal anzueignen und als die eigenen auszugeben. Das wäre nicht das erste Mal in Academia, dass ein solch ungeheurer Vorgang passierte.
Doch das Büro war auffallend leer. Georg gewann den Eindruck, dass es gesäubert worden war. In den Schreibtischschubladen war belangloses Zeug wie Tipp-Ex, Tesafilm, ungeöffnete Pralinen und so weiter. Am Bildschirm war kein Rechner angeschlossen, sodass Georg davon ausging, dass sich dieser bei ihr zu Hause befand oder aber, dass er bereits von Meyer als Eigentum des Instituts ‚eingezogen‘ worden war. Die wenigen grauen Leitz-Ordner in den Regalen enthielten Rechnungen, Arbeitsstundenblätter und wenige Kopien aus wichtigen Standardwerken der Wirtschaftswissenschaften. Das Büro half ihm nicht weiter! Er musste neuen Spuren nachgehen.
Jetzt stand er vor dem Haus, in dem Frieda gewohnt hatte und hoffte, dass er hier erfolgreicher sein würde. Es handelte sich um ein ordentliches, aber sehr konventionelles Zweifamilienhaus – zweifellos aus der Retorte. Georg hatte sich dem Vermieter als potenzieller Nachmieter Friedas angekündigt. Der kleine, stämmige Mann eilte durch den kleinen Garten und öffnete Georg das Törchen.
„Sie sind also daran interessiert, die Zweizimmer-Einliegerwohnung zu mieten, Herr Doktor?“, hieß er ihn mit mächtig schwäbischem Akzent willkommen und streckte eine stark behaarte Pranke hin, die Georg jovial schüttelte und überrascht war, wie sanft der Händedruck seines Gegenübers ausfiel.
„Genau“, antwortete er und musterte dabei den vorbildlich gepflegten Garten, in dem kein Unkraut wuchs und in dem alles mit dem Lineal angeordnet schien.
„Kommen Sie“, meinte der Schwabe und zeigte mit der Hand auf die schwarze, massive Haustüre. „Unser Garten ist immer tipptopp gepflegt, genauso wie man das doch haben möchte, gell?“, fragte er dann, erhielt aber nur ein kurz angebundenes „Hm“ zur Antwort.
Das Haus bildete