Und das ganze Volk nahm den Donner wahr, die Flammen, den Hörnerschall und den rauchenden Berg. Als nun das Volk das wahrnahm, zitterten sie, blieben von ferne stehen und sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! [Als ob sie nicht, nicht mehr in der Lage wären, Gott unmittelbar, von Nahem zu hören] Aber Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben. Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Denn nur um euch zu prüfen, ist Elohim gekommen, und damit die Furcht vor ihm euch vor Augen sei, damit ihr nicht sündigt. So blieb denn das Volk von ferne stehen. Mose aber näherte sich dem Dunkel, wo Elohim war.
Da sprach Jahwe zu Mose: So sollst du zu den Söhnen Israel sprechen […].51
Bald darauf wird die Liste mit den „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ kommen (das Strafgesetzbuch und die Todesstrafe). Andere Übersetzung, die von < Chouraqui52 >:
Alles Volk aber, sie sahn
das Donnerschallen, das Fackelngeleucht,
den Schall der Posaune, / den rauchenden Berg,
das Volk sah, / sie schwankten, / standen von fern.
Sie sprachen zu Mosche: Rede du mit uns, wir wollen hören
[Als ob sie Gott nicht hören könnten, einen Gott, der allzu furchteinflößend und bedrohlich ist, der sie, nachdem er ihnen gesagt hat „Du sollst nicht töten!“, mit dem Tode bedrohen wird, mit jener Todesstrafe, die er zu erfinden gedachte],
aber nimmermehr rede mit uns Elohim [Als ob sie sagen würden: Er soll schweigen, dieser Gott, schweig, sprich nicht mehr zu uns, Moses, sag ihm, dass er schweigen und sich damit begnügen soll, dir zu sagen, was er uns mitteilen will], aber nimmermehr rede mit uns Gott, sonst müssen wir sterben.
Mosche sprach zum Volk: / Fürchtet euch nimmer!
Denn um des willen, euch zu prüfen, ist Elohim gekommen,
und um des willen, daß seine Furcht euch überm Antlitz sei,
damit ihr vom Sündigen lasset.
Das Volk stand von fern,
Mosche aber trat zu dem Wetterdunkel, wo Elohim war.53
(Eine Zeit des Stillschweigens einlegen)
Erinnern Sie sich, von woher wir kommen. Erinnern Sie sich, dass es der Fall unseres ersten zum Tode Verurteilten ist, des Griechen, Sokrates, der uns hierher geführt hat. Nun gibt es aber unter all den Tönen, die zwischen derart verschiedenen, scheinbar inkommensurablen Szenen wie denen des Dekalogs und des Prozesses gegen Sokrates auf analoge Weise zusammenklingen oder widerhallen, auch folgenden: eine Anprangerung eines Kults falscher Götter, schlechter Götter. Auf der einen Seite wird Sokrates beschuldigt, neue Götter eingeführt zu haben, auf der anderen Seite verdammt Jahwe – den Zehn Geboten vorangehend, sie beginnend und ihnen folgend – die Anbetung von Götzen, von aus Stein gehauenen Göttern, von Abbildern und Elohims aus Silber und Gold.
Unter all den exegetischen Mitteln und hermeneutischen Modellen, die sich um eine solche Erzählung drängeln mögen, können einige natürlich versuchen, in ihr eine historische Offenbarung zu dechiffrieren, andere eine Mythologie, die der Geburt des Gesetzes als Geburt der Todesstrafe eine allegorisch-narrative Form gibt; wieder andere können versuchen, durch das narrative (offenbarte oder mythologische) Raster hindurch zu dechiffrieren, wie die Struktur selbst des absoluten Gesetzes in eine fabelartige Geschichte gebracht wird, und zwar als in der Todesstrafe, in der Androhung des für eine Tötung zu zahlenden Preises, eben der Todesstrafe, gründend, am Ursprung des Gesellschafts- oder Nationalstaats-Vertrags, am Ursprung aller Souveränität, aller Gemeinschaft oder aller Genealogie, jeglichen Volkes.
Ich habe also gerade die Analogie mit dem Fall Sokrates in Erinnerung gerufen, dem ersten, aber es gibt auch den Fall Jesus. Ich sage jedes Mal Fall [cas], um daran zu erinnern, dass es sich um eine Rechtssache [cause judiciaire], einen Prozess und um Strafrecht handelt (übrigens: Die gesamte amerikanische Verfassungsrechtsprechung, auf die wir noch zurückkommen werden, insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe, einer Todesstrafe, die zunächst eingeführt, dann abgeschafft, schließlich wiedereingeführt, ausgesetzt, dann in dieser oder jener einzelstaatlichen Gesetzgebung erneut angewandt wurde, diese gesamte Rechtsprechungsgeschichte wird von einer Geschichte des Rechts um „Fälle [cas]“ herum skandiert, „case X versus Y“, die jedes Mal ein Datum der Entscheidung – zum Beispiel der Obersten Gerichtshöfe – festhalten, Entscheidungen, die für die Rechtsprechung als Autorität maßgebend sind). Ich sage also Fall, um an diese juristische Dimension und diese Prozesse zu erinnern, aber auch, weil der Fall [cas] auch der Fall im Sinne von Sturz [chute] ist, eine kapitale Überstürzung, ja die Enthauptung [décapitation], die den Kopf oder das Leben oder den Körper niederwirft, die fallen oder herabfallen, zu Boden, unter das Schafott oder ans Kreuz. Es wird da also den Fall Jesus geben, hinsichtlich dessen wir dasselbe aufzeigen können werden: eine religiöse Anklage, die, natürlich, von einer Souveränität und einer politischen Exekutivbeziehungsweise Exekutionsmacht [pouvoir d’exécution] übernommen wird. Sokrates und Jesus also, aber auch Jeanne d’Arc (1431: selbes Schema, auf das wir immer wieder zurückkommen werden: eine religiöse Anklage im Dienste einer politischen Souveränität oder von dieser, die die Tötung zu vollstrecken beziehungsweise exekutieren vermag, bedient: Bündnis von Religion und Staat). Diese drei, Sokrates, Jesus, Jeanne, sind natürlich keineswegs die Einzigen oder die Ersten, noch weniger die Letzten, aber es sind große emblematische Figuren, anhand derer ich, in der Morgendämmerung dieses Seminars, beginnen möchte, noch bevor wir anfangen.