Weniger Müssen, mehr Wollen!
Weniger (Selbst-)Optimierung, mehr (Gestaltungs-)Freiheit!
Weniger Tun, mehr (Sein-)Lassen!
Weniger Vergleichen, mehr Dankbarkeit!
Weniger Hast, mehr Rast!
Weniger Pflicht, mehr Kür!
Weniger Ich, mehr Miteinander!
Ich wünsche uns allen, dass wir Mittel und Wege dazu finden und ein neues Offensein für Veränderung hin zu mehr Lassen entwickeln. Ängste, darauf weisen unsere menschlichen Erfahrungen hin, gehören dazu, sie wollen erkannt und ernst genommen werden. Nur so können wir sie hinter uns lassen. Picasso spricht einmal von der »Gnade des Gehaltenseins« in der Angst des Loslassens. Das macht Mut, tiefer zu blicken und über die Ängste hinauszuwachsen. Das ist auch notwendig, weil Ängste unsere Entfaltungsmöglichkeiten und unsere Kreativität einschränken und Vorurteile begünstigen. »Wie psychologische Forschung vielfach gezeigt hat, geht Angst mit Genauigkeit, Kleinteiligkeit und Fehlervermeidung einher, nicht jedoch mit Offenheit, gedanklicher Weite und Mut für neue Ideen.«1 Von Letzterem möchte ich in diesem Buch erzählen.
Aus aktuellem Anlass habe ich ein Kapitel zur Coronakrise hinzugefügt. Gerade in dieser Krise werden einige Gedanken, die ich in diesem Buch darstellen möchte, besonders anschaulich.
Ich verstehe mich in sämtlichen Themen dieses Buches nicht als abgehobener Experte, der Ihnen wie ein erleuchteter Meister meilenweit voraus ist. Vielmehr bin ich selbst Lernender, probiere aus, verwerfe und versuche neugierig etwas Anderes. Bei vielem, was ich schreibe, meine ich genauso mich selbst. Ich bin also genauso auf dem Weg wie Sie und die meisten anderen, die sich diesem Thema zuwenden. Gehen wir also zusammen, das macht sowieso viel mehr Freude!
Entscheidungen für etwas, bedeuten immer auch Verzicht auf etwas Anderes. Jedes Ja beinhaltet ein Nein. Das ist mitunter herausfordernd und schwer, es macht am Ende des Tages allerdings lebendig und zufrieden. Unsere Persönlichkeit entwickelt sich nämlich mit den Entscheidungen, die wir treffen. Sie machen uns und unser Leben einzigartig. Mit ihnen behauen wir den Stein, der somit mehr und mehr zu unserer persönlichen Lebensskulptur wird. So gewinnen wir letztendlich viel mehr, als wir zu verlieren meinen, wenn wir Dinge sein- oder loslassen.
Verzichten lernen beinhaltet, so paradox es klingen mag, das Versprechen von Gewinn. Auszusteigen aus der Hetze des Schneller, Weiter und Mehr, des Vergleichens und Hinterherjagens lässt Freiheit und Raum entstehen. Beides sind Grundbedingungen menschlichen Wachsens. Wenn wir uns gegenseitig dabei unterstützen, wird der Gewinn für alle größer werden. Das klingt fast nach einer kapitalistischen Maxime und geht doch gerade darüber weit hinaus.
Warum Verzichten etwas mit seelischer Gesundheit zu tun hat
… dass deine Wahrheit langsam wachsen wird, denn sie ist
Geburt eines Baumes und nicht glücklicher Fund einer Formel.
Antoine de Saint-Exupéry
Verzichten, das klingt zunächst einmal überhaupt nicht verlockend, vielleicht sogar abstoßend. Möglicherweise weckt das Wort ungute Assoziationen aus Kindheit und Jugend. Unter Umständen erinnert es sogar manche an die Kriegs- und Nachkriegszeit, die von Mangel und Verzicht gekennzeichnet war. Wozu soll das gut sein? Und was daran ist gesund?
Diese Fragen sind sehr verständlich. Haben wir doch oft genug die Erfahrung gemacht, dass wir etwas brauchen, um gesund zu werden, dass uns etwas fehlt, was es auszugleichen, zu ersetzen oder zu reparieren gilt.
Und dennoch mehren sich auf vielen Ebenen Hinweise und wissenschaftliche Erkenntnisse über den Gewinn des Lassens und Verzichtens. So hat in den vergangenen Jahren das Intervallfasten für Furore gesorgt. Es beruft sich auf verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse, die besagen, dass ein Nahrungsverzicht über eine Zeitspanne von vermutlich 14 bis 16 Stunden körpereigene Reparaturvorgänge anstößt, die die Körperabwehr stimulieren und Selbstheilungskräfte in Gang setzen. Dem Heilfasten wird schon lange eine solche Wirkung zugesprochen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen dies zu bestätigen. Hier also tragen Verzicht und Weglassen zu einem Mehr an Gesundheit bei. Zumindest in Tierversuchen wurde belegt, dass eine kalorienreduzierte Lebensweise mit einer Lebensverlängerung einhergeht und dass hochgiftige Chemotherapien im Fastenmodus besser vertragen werden. Mittlerweile wird an der Charité in Berlin dazu auch über die Auswirkung auf den Menschen geforscht.
Lässt sich dies nun auch auf seelische Gesundheit übertragen?
Der 37-jährige Herr M. war als Entwicklungsingenieur einer großen deutschen Firma seit Jahren erfolgreich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern aktiv gewesen. Seine Erfolge hatten dazu geführt, dass er auf der Karriereleiter schnell nach oben geklettert war. Die Erwartungen an ihn waren damit nicht kleiner geworden. Zunehmend hatte sich etabliert, dass lange vor dem Abschluss eines intensiven Projekts bereits ein neues angestoßen wurde. Hinweise an seinen Vorgesetzten, dass dies zeitlich nicht zu leisten sei, beantwortet dieser stets mit wohlwollendem Schulterklopfen und Sätzen wie: »Das schaffen Sie schon Herr M., Sie sind mein bestes Pferd im Stall, das wissen Sie doch!« Dies führte dazu, dass Herr M. sich mehr und mehr anstrengte, die tägliche Arbeitszeit längst bei zwölf Stunden und mehr angelangt war und er an den Wochenenden zu Hause am Computer weiterarbeitete. Zuletzt nahm er mit seiner Familie nur noch das Abendessen gemeinsam ein, um sich anschließend zu Hause in sein Büro zurückzuziehen und die Arbeit fortzusetzen.
Lange Jahre hatten ihm sportliche Ausgleichsaktivitäten gutgetan, auch hatte er an den Wochenenden mit seiner Familie und nicht zuletzt in Urlauben entspannen und abschalten können. Dies alles hatte längst aufgehört, ohne dass er es richtig bemerkt hatte. Auf Hinweise seiner Frau reagierte er zunehmend gereizt und verkroch sich immer mehr in die Arbeit.
Im Winter erlitt er einen fieberhaften grippalen Infekt. Da jedoch wieder einmal ein Projekt vor dem Abschluss stand, schleppte er sich wie gewohnt zur Arbeit. Später berichtete er, dass er sich bereits wie in einem Tunnel befunden hätte. Er könne sich nur noch daran erinnern, mit ausgeprägter Luftnot, Schweißausbrüchen, Herzrasen und Druck auf der Brust von einem Notarzt ins Krankenhaus gebracht worden zu sein. Einen Herzinfarkt konnte man ausschließen. Dennoch fühlte er sich derart schwach, dass er zunächst nicht entlassen werden konnte. Ein hinzugezogener Facharzt für psychosomatische Medizin diagnostizierte eine Panikattacke und ein schweres Burn-out-Syndrom. Herr M. wurde krankgeschrieben.
Im Rahmen des sich anschließenden Klinikaufenthaltes musste Herr M. feststellen, dass er sich in den zurückliegenden Jahren vollständig verausgabt und erschöpft hatte. Gleichzeitig hatte er den Kontakt zu seiner Familie und auch zu sich selbst verloren. Um den letztlich unerfüllbaren Vorgaben irgendwie gerecht zu werden, hatte er unermüdlich das Tempo erhöht. Wie ein Marathonläufer, der vergisst, während des Laufs ausreichend zu trinken und zwischen den Trainingseinheiten zu regenerieren, war er völlig erschöpft zusammengebrochen. Nun erkannte er in kleinen Schritten, dass es nicht immer um ein Mehr, sondern um ein Weniger an Aufgaben und beruflichen Herausforderungen gehen müsse, um gesundheitlich auf Dauer bestehen zu können. Dem »Ja, wird erledigt«, lernte er ein »Nein, nicht mit mir« entgegenzusetzen. Dies mündete schließlich in der Erkenntnis, den letzten Karriereschritt wieder rückgängig zu machen. Schon aus der Klinik heraus teilte er dies seinem Vorgesetzten mit.
Diese Fallgeschichte zeigt eindrucksvoll, was Millionen Menschen täglich erleben, wenn sie sich im Hamsterrad der Arbeitsverdichtung und unrealistischen Anforderungen befinden und die Lösung in einer fortgesetzten Beschleunigung vermuten. Oft schlägt dann irgendwann die Burn-out-Falle zu, vermeintlich plötzlich, bei genauerem Hinsehen mit vielen Vorzeichen. Dabei kann es sich um körperliche Vorzeichen von Erschöpfung handeln wie Schlafstörungen, unterschiedlichste Schmerzen und andere körperliche Beschwerden wie unbegründetes Herzrasen oder Schwitzen ohne körperliche Anstrengung und vieles mehr. Die Erholungsfähigkeit lässt nach, man erwacht morgens gerädert und sehnt sich am Montagmorgen bereits nach dem kommenden Freitag.
Die eigenen Gedanken kreisen