Am Ende unseres dreimonatigen Aufenthalts auf dem ehemaligen KdF-Schiff wurden wir alle fast gleichzeitig in sämtliche Himmelsrichtungen verstreut. Mit ein paar Kameraden – Lücker und ich freuten uns, dass wir weiterhin zusammenbleiben konnten – fuhr ich nach Swinemünde zum Geschützführer-Lehrgang. Vor unserer Abreise schenkte mir Leutnant Unverzagt ein Exemplar des Buches »Wir hielten Narvik«. Als Widmung hatte er in seiner klaren Handschrift darin vermerkt: »Trotz allem Pech ein fröhlich Lied; nun Schicksal schlag nur zu. Wir werden seh’n, wer früher müd’, ich oder du. In Dankbarkeit Ihr Leutnant Unverzagt.« Ich sah den von mir sehr geschätzten Offizier an diesem Abend zum letzten Mal. Am 26. Juni 1944 wurde er mit seinem Boot U 719 westlich von Nordirland vom britischen Zerstörer »Bulldog« mit Wasserbomben versenkt.
In Swinemünde wurden wir auf dem Handelsdampfer »General Osario«, der im Hafen ankerte, in Vier-Mann-Kabinen eingewiesen. Lücker und ich gehörten derselben Fünfzehn-Mann-Gruppe an, und er wohnte in meiner Nachbarkabine. In den folgenden Tagen wurden wir theoretisch mit allen Einzelteilen, der Reichweite sowie der Handhabung und Pflege von 10,5-cm-Geschützen sowie kleineren Kanonen vertraut gemacht. Zudem konnte schon bald jeder von uns die an Bord mitgeführten Handfeuerwaffen wie Maschinengewehre oder Maschinenpistolen fast schon mit verbundenen Augen zerlegen und pflegen. Dies hielt jedoch unsere Schleifer nicht davon ab, uns weiterhin »hart zu machen«. Schon bei geringen Verstößen und noch vor unserer ersten Schießübung lernten einige von uns das Gewicht der Granaten sehr gut kennen; es waren nicht weniger als 45 Kilogramm. Eines Abends traf es auch mich.
Bootsmaat Birkdorn fühlte sich kurz vor dem Zapfenstreich von mir nicht zackig genug gegrüßt, als ich mit Lücker und einigen Kameraden aus der Stadt zurückkehrte. Zur Strafe musste ich mit einer Granate in meinen Armen »Häschen-Hüpf« spielen, das bedeutete, einmal das gesamte Oberdeck hüpfend zu umrunden, und zwar in der Hocke. Birkdorn ging langsam neben mir her und wurde nicht müde, mich mit bösen Bemerkungen zu überschütten. Als ich mich gegen Ende der Runde nur noch mit letzter Willensanstrengung aufrecht halten konnte, rief er: »Zentnerschwere Weiber stemmen, das könnt ihr! Aber so einen kleinen Liebesgruß an unsere Gegner umarmen, ist euch zu schwer! Möchten Sie jetzt etwa schlappmachen, Matrose Staller? Das rate ich Ihnen nicht! Ich müsste mir ansonsten die ganze Nacht für Sie Zeit nehmen! Dreimal dürfen Sie raten, wem von uns beiden dies schlechter bekommen würde!« Wütend biss ich meine Zähne zusammen. Endlich an der zuvor bestimmten Ziellinie angelangt, bemühte ich mich, die schwere Granate so leise wie möglich auf dem Deck abzulegen. Birkdorn ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. Mehrere Kameraden waren vor mir bei dieser Prozedur schon umgekippt. Doch obwohl auch mir die Knie zitterten und ich schwer atmen musste, fühlte ich mich in diesem Augenblick stark.
Wir hatten an den Kanonen alle Bedienungsgriffe, das Zerlegen und Zusammenbauen sowie das Anvisieren von Zielen geradezu bis zum Erbrechen geübt, bevor wir erstmals auf verschiedenen kleinen Kanonenbooten auf die ruhige Ostsee hinausfuhren. Dort trafen wir einen Schlepper, der in gebührendem Abstand ein gelblich weißes Netz als Zielscheibe hinter sich herzog, das auf einem Holzkahn aufmontiert war. Unser Boot sollte den ersten Kanonenschuss auf diese Attrappe abgeben. Durch meine optische Visiereinrichtung zielend, gab ich die Werte an. Als ich das Kommando »Feuer frei!« hörte, mich im Ziel glaubte und auf den Abschussknauf schlug, krachte der Schuss. Staunend bemerkte ich, wie das kleine Boot den kräftigen Rückstoß der Kanone abfederte. Dann sah ich, dass gleichzeitig mit dem dröhnenden Knall etwa auf halber Strecke zwischen Schlepper und Ziel eine weiße Wasserfontäne in den grauen Wolkenhimmel spritzte.
Unser Gruppenführer Bootsmann Kerner stand hinter mir und begann sofort zu toben: »Wollt ihr wohl anständig zielen, ihr Saukerle?« Der etwa 30 Jahre alte Mann war ein altgedienter Marinesoldat, mittelgroß, untersetzt und wirkte grobschlächtig. Er brülle weiter: »Seid ihr denn total verrückt geworden? Ihr habt mit eurem ersten scharfen Schuss diesen unschuldigen Schlepper, den Stolz unserer Ostseeflotte, fast auf den Meeresgrund befördert!« Er stemmte beide Arme in seine breiten Hüften und konnte sich kaum wieder beruhigen. »Das wird ein böses Nachspiel für euch Schlappschwänze haben! Wiederholung! Diesmal aber anständig! Das ist ja zum Mäusemelken mit euch Schlumpschützen. Laden! Feuer frei!« Als ich dieses Mal mit meiner Hand auf den Abschussknauf schlug, wurde ein Treffer gemeldet, der unseren Gruppenführer allerdings auch nicht besänftigte.
Am Abend folgte die unvermeidliche und angekündigte »Sonderbehandlung« zur Strafe. Dann sanken wir Angehörigen der Kerner-Gruppe erschöpft in unsere Kojen. Nachts sah ich im Traum den Schlepper in Flammen stehen und schreckte aus dem Schlaf, als die Trillerpfeife des UvD durch die Gänge schrillte. Bootsmaat Müller wirkte an diesem Morgen irgendwie vergnügt, wir konnten uns kaum erklären, weshalb der ansonsten so bärbeißige Maat heute einen beinahe friedfertigen Eindruck machte.
Eine Stunde später wurde uns klar, was uns heute erwartete. Keiner hatte bisher dem kaum wahrnehmbaren leichten Schwanken unseres im Hafen fest vertäuten Mutterschiffes größere Bedeutung beigemessen. Jetzt befielen mich und wohl auch viele der anderen dunkle Vorahnungen, als wir auf Deck über die sturmgepeitschte Ostsee blicken konnten. Kerner trieb uns noch eiliger als sonst über die Gangway in das Kanonenboot, und kaum war der Letzte unserer Gruppe an Bord, da legten wir auch schon ab und nahmen Kurs auf die offene See. Breitbeinig stand ich an meinem Platz neben der Kanone am Bug, blickte hin und wieder in die angespannten Gesichter meiner Kameraden von der Bedienungsmannschaft und hielt mich an der Reling fest. Kaum hatten wir das ruhige Wasser des Hafenbeckens verlassen, da begann unsere Nussschale zu tanzen. Wenn der Bug sich senkte und sich gegen die aufgewühlte See stemmte, übersprühten uns immer wieder kalte Wasserschleier. Die dunkelgraue Wolkendecke über uns schien von unsichtbaren Händen ohne Unterlass in alle Himmelsrichtungen gezerrt zu werden. Dabei fühlte ich mich einmal ruckartig, dann wieder sanfter hochgehoben, um danach nach links, rechts, vorwärts oder auch nach hinten abzusinken. Immer fester umklammerte ich die Reling, fühlte, wie mir abwechselnd kalt oder heiß wurde und mir der Schweiß auf die Stirn trat. Ich war tief enttäuscht, als ich schon nach wenigen Minuten krampfhaft schluckend gegen meinen rebellierenden Magen ankämpfen musste. Ich dachte: »Beginnende Seekrankheit? Wie soll das auf einem U-Boot werden! Gleich muss ich mich übergeben! – Nein, Toni, dass darfst du auf keinen Fall!« Ich konzentrierte mich. Als ich jedoch Lücker einige Augenblicke später neben mir in seinem Mageninhalt auf den Planken liegen sah, überkam auch mich Brechreiz, und mein Frühstück drängte nach oben. Lücker jammerte: »Ich werde gleich sterben. Meine Glieder sind schon bleischwer. Kameraden, ich muss sterben!« Kerner stand mit weit gespreizten Beinen federnd neben uns, stieß Lücker mit seinen Schuhspitzen mehrmals in die Seiten und brüllte zornig: »Beherrschung, Mann! Stehen Sie endlich wieder auf!«
Der Kommandant des Bootes, Oberbootsmaat Kudowsky, ein älterer Mann mit grau melierten Schläfen, verließ nun seinen Platz auf der Brücke. Er blickte drohend und spöttisch in die Runde: »Nun seht euch diese Weichlinge an! Ihr wollt deutsche Matrosen sein?« Ein unbeschreiblich verächtlicher Blick traf den immer noch auf den Planken liegenden Lücker. »Sterben könnt ihr noch früh genug! Aber nicht hier auf meinem Boot! Ein deutscher Matrose hat sich an ruppigen Seegang zu gewöhnen. Das gilt für alle! Aufstehen! An die Kanone! Wir sind gleich am Ziel!« Oberbootsmaat Kudowsky nickte Kerner kurz auffordernd zu, wandte sich um und ging mit sicherem, breitbeinigem Seemannsgang über das wankende Deck zurück an seinen Platz. Kerner tobte indessen weiter: »Jetzt haben wir endlich einmal Verhältnisse wie auf einem U-Boot im Einsatz, und ihr müden Kerle versucht schlappzumachen! So etwas gibt’s doch nicht! So eine gute Gelegenheit zum Üben haben wir nicht alle Tage. Backbord voraus sehe ich schon immer wieder unser Ziel aus den Wellen auftauchen. – Laden! Feuer frei!«
Noch heute ist mir nicht klar, wie ich meine Übelkeit bezwingen konnte. Als wir nach zahlreichen Fehlschüssen und nur wenigen Treffern fast schon bei Dunkelheit endlich wieder längsseits unseres Mutterschiffes anlegten, wankte ich mit den anderen erschöpft an Deck. Staunend sah ich einige Kameraden, die miteinander lachten und scherzten und denen dieser Seegang offensichtlich nur wenig anhaben konnte. Im Gegenteil. Als ich und viele andere schon nach den ersten Essversuchen unsere Abendrationen von uns schoben, freuten sie sich ungeniert und verzehrten mit sichtlichem Wohlbehagen zusätzlich zu ihrem eigenen auch unseren Linseneintopf