Jeden Freitag musste unsere Kompanie, immer laut singend, an Land zu einem in der Nähe des Ankerplatzes unserer schwimmenden Kaserne errichteten Gebäude marschieren. Der schlechte Ruf, der diesem Ort vorausgeeilt war, bestätigte sich schon am ersten Freitag. Die raubeinigen Ausbilder dort bezeichneten uns mit schier unerschöpflichem Wortschatz als Muttersöhnchen, Schlappschwänze und was sonst auch immer.
Ich war nicht gerade wasserscheu, aber es kostete mich doch einige Überwindung, mich im Wasser des sogenannten Tauchtopfes bis zum etwa zehn Meter tiefen Grund absinken zu lassen. Zuvor mussten wir lernen, wie man den Dräger-Tauchretter fachgerecht umschnallt. Dabei handelte es sich um eine flache Schwimmweste, die mit einer integrierten Mini-Sauerstoffflasche sowie einer Nasenklemme und einem Mundstück versehen war. »Ihr wollt doch nicht ersaufen, wenn euer Boot verunglückt! Mit dem Tauchretter gibt es immer Hoffnung!«
Der Ausbilder schrie einen Kameraden an: »Sie Feigling sind ja immer noch hier oben im Trockenen! Ich habe Sie doch hier an der Sicherheitsleine! Wenn Ihnen dort unten bei den Haifischen unwohl werden sollte, dann ziehen Sie einfach. Aber wehe, wenn Sie versuchen sollten, mir etwas vorzuflunkern. Ich kann Sie zwar jederzeit wieder hochziehen, aber wenn Sie Unwohlsein nur vortäuschen, lasse ich Sie schleifen, bis Sie gern wieder gesund sind! Los, Bleigürtel anlegen, damit Sie runterkommen! Zuvor den Nasenklemmer des Drägers an Ihrem krummen Riechkolben befestigen, damit kein Wässerchen in Ihren Luxuskörper eindringen kann! Jetzt noch das Mundstück für die Sauerstoffzufuhr rein, ab mit Ihnen!« Einen anderen hörte ich brüllen: »Möchten Sie Langweiler sich etwa eine Sonderbehandlung verdienen? Wir können später mit Ihnen so lange strafexerzieren, bis Ihnen das Wasser im Arsch kocht!« Solche und ähnliche Sprüche hörte ich überall, und als ich an der Reihe war, zwang ich mich, rasch zu tauchen. Unten waren das Deck und der Turm eines U-Bootes nachgebildet. Ich hatte den Turm einmal zu umrunden, und weil mich der Bleigürtel unten hielt, musste ich trotz des aufwärts strebenden Tauchretters nach oben gezogen werden. An diesem Abend kamen Lücker und ich zu dem Schluss, dass der Tauchretter im Ernstfall wohl mehr ein psychologisches als ein real wirksames Rettungsmittel wäre. Und es gab weitere schlechte Nachrichten: Beide hatten wir aus Briefen unserer Mütter erfahren, dass auch unsere Väter einberufen worden waren; der Vater von Heinz zur Infanterie, meiner zu den Gebirgsjägern.
An anderen Freitagen wurde im Tauchtopf mit uns geübt, wie man aus der Zentrale eines nicht allzu tief auf Grund liegenden Bootes aussteigt. Dazu gingen wir innerhalb des Gebäudes drei Stockwerke nach unten. Dort öffnete man für uns ein Schott, das ist eine wasserdicht verschließbare und druckfeste Stahlluke zwischen den einzelnen Abteilungen eines Bootes, und wir befanden uns in einem engen Raum, der der Zentrale eines U-Bootes nachgebildet war. Natürlich waren wir in der zuvorkommenden Ausdrucksweise unserer Ausbilder bestens darauf vorbereitet, was jetzt auf uns zukam: Je drei Mann stellten sich mit ihren Tauchrettern rechts und links neben dem Luftsüll (ein vom zentralen Luk in die Zentrale reichendes Stahlrohr) in Bereitschaft. »Strengste Disziplin! Keiner darf drängeln. Wir lassen jetzt Wasser eindringen. Dabei wird die Luft komprimiert, und die Köpfe bleiben neben dem Luftsüll in der dort zusammengepressten Luft über Wasser. Erst wenn das Turmluk über euch aufspringt, könnt ihr schön einer nach dem anderen hier in dieses Rohr und dann nach oben tauchen! Also, keine Angst und unbedingt Nerven behalten! Ist schon tausendmal geübt! Auch Ihr werdet lernen, wie man aus einem verunglückten U-Boot aussteigen kann!« Ich fühlte meinen Herzschlag wie noch selten zuvor.
Als ich endlich aus der Luftblase unter dem Luftsüll hindurchtauchte und nach oben schwebte, fühlte ich mich mehr als nur erleichtert. Am darauf folgenden Freitag mussten wir ohne Tauchretter aussteigen. Zuvor jedoch wurde uns eingeschärft, beim Auftauchen mehrmals die Luft aus unseren Lungen zu pressen und uns dadurch den verschiedenen Druckverhältnissen anzupassen – zur Vermeidung innerer Verletzungen.
Die Samstage nannten wir Schleiftage. Man jagte uns im eiskalten Januar des Jahres 1942 in unseren dünnen Drillichanzügen mit Gepäck und Karabinern durch Eis und Schnee. Wir sollten auf diese Art so widerstandsfähig gemacht werden, wie man es auf einem U-Boot zu sein hatte. Am dritten dieser Schleiftage befahl Bootsmann Kruse plötzlich: »Gasmasken aufsetzen!« Dann mussten wir zehn Kilometer laufen. Beständig und nicht allzu schnell immer hinter Lücker laufend, passierte ich einige Streckenposten auf der mir endlos scheinenden Wegstrecke, kämpfte dabei gegen aufkeimende Übelkeit und erreichte endlich völlig erschöpft das Ziel. Dort wartete Kruse in seinem warmen Wintermantel auf uns, und ich riss mir, ohne seinen Befehl abzuwarten, wütend die Gasmaske vom Gesicht. Lücker und ich blickten beide staunend zu den uns folgenden Kameraden zurück, konnten vor Überanstrengung kein Wort sprechen und auch nicht verstehen, was Kruse uns zurief. Beide konnten wir kaum glauben, dass wir unter den Ersten am Ziel angelangt waren. Einige Kameraden waren auf der Strecke umgefallen und liegen geblieben. Nur unter Aufbietung unserer letzten Kräfte konnten wir sie an Bord der »Wilhelm Gustloff« zurückbringen.
Beim Abendessen im Speisesaal wurde gemunkelt, dass Kruse zu Kaleu Bornstein befohlen und wegen dieses Gewaltmarsches zur Rechenschaft gezogen worden sei. Für uns änderte das allerdings nichts, auch in den folgenden Wochen blieb Kruse einer der gefürchtetsten Schleifer.
Aber für mich gab es doch eine Veränderung. Anscheinend war mir von Bergen op Zoom ein gewisser Ruf vorausgeeilt, denn nach einer der vielen Unterrichtsstunden hielt mich unser Zugführer Leutnant Unverzagt zurück und fragte höflich, ob ich nicht hier auf der »Gustloff« sein Aufklarer werden möchte. Unverzagt kannten wir alle als einen ruhigen, besonnenen Offizier, und deshalb sagte ich ohne langes Besinnen sofort zu. Als Aufklarer war ich ja nicht unerfahren. Es überraschte mich allerdings, als mich Unverzagt schon am ersten Abend, an dem ich mich bei ihm meldete, wegen einer ganz anderen Sache ansprach: »Matrose Staller, ich habe gehört, dass Sie ein ganz passabler Geiger sein sollen und in München bei einen Jugendorchester spielten. Stimmt das?«
»Jawohl, Herr Leutnant!«
»Menschenskind, Staller, weshalb sagen Sie denn nichts! Ich muss das so nebenbei von einem Ihrer Kameraden erfahren! Einer unserer Geiger im Offizierskasino wurde überraschend auf ein Boot abkommandiert. Vorschlag: Statt mit den anderen aufzuklaren, spielen Sie künftig am Abend bei uns. Einverstanden?«
»Jawohl, Herr Leutnant!«
»Besitzen Sie eine Geige?«
»Jawohl, Herr Leutnant. Sie liegt jedoch zu Hause.«
»Matrose Staller, bitte schreiben Sie noch heute an Ihre Mutter, sie möge doch so freundlich sein, die Geige rasch zu schicken. Ich verbürge mich persönlich dafür, dass Ihr Instrument wieder unbeschadet zu Ihnen nach Hause zurückgesandt wird, falls auch Sie unvorhergesehen abkommandiert werden sollten und dies deshalb nicht selbst besorgen können. Einverstanden?«
»Jawohl, Herr Leutnant!«
Lücker freute sich mit mir und gestand freimütig, dass er es war, der mich heute unserem Zugführer als Musiker empfohlen hatte. Während der folgenden drei Monate entging ich durch meine Mitgliedschaft im Quartett des Offizierskasinos auf der »Wilhelm Gustloff« so mancher Abendschikane der Ausbilder. Mich wunderte immer wieder, dass unsere Offiziere diese vielen Strafmaßnahmen stillschweigend zu dulden schienen und sich unwissend gaben. Uns wurde zwar immer wieder klargemacht, dass wir als künftige U-Boot-Fahrer besonders hart ausgebildet werden mussten, aber dieses Flaggeluzzi und ähnlicher Unsinn hatten meines Erachtens damit nur wenig zu tun. Einmal hörte ich Bootsmaat Hansen: »Treppenlaufen vor dem Einschlafen macht hart, Sie Mädchen.