Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Torsten W. Burisch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960742906
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den Markt.

      „Es würde euch das Herz brechen, diesen Überfluss an Sünde zu sehen, aber kein Geld zu haben, euch etwas zu kaufen“, hatte Schwester Burgos immer gesagt. Erst jetzt verstand er, was sie meinte.

      E’Cellbra!

      Wie ein Blitz traf ihn der Gedanke. Sie hatte ihm einen Krato gegeben. Eine prüfende Handbewegung bestätigte ihm, dass neben der Karte und dem Säckchen mit dem Pulver gegen Goracks auch das Geldstück immer noch sicher in seiner Jacke vernäht war. Mit einem wehmütigen Gefühl knibbelte er die fein säuberliche und akkurate Naht von Tami auf. Gerade nur so weit, dass er den Krato durchschieben konnte. Er hielt ihn in seiner offenen Hand und dachte nach. „Gebrauche ihn, wenn du ihn brauchst. Doch nutze deinen Verstand, bevor du ihn benutzt“, hatte E’Cellbra gesagt. Und nun stand er hier und wollte ihn für etwas Süßes ausgeben. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Hexe ihn tadeln würde, wenn sie ihn jetzt sähe. „Was soll’s?“, dachte er. „Sie kann mich ja nicht sehen. Und nun, da Tami tot ist, wofür soll ich da noch sparsam sein? Im nächsten Wald werde ich womöglich wieder überfallen, und es gibt keinen Grund, warum ich mich dann noch wehren sollte. Aber wenn ich schon sterbe, dann wenigstens mit der Gewissheit, dass einmal in meinem Leben etwas Süßes auf meiner Zunge zerging.“

      Er ließ erneut seine Augen über die prächtige Auslage schweifen. Nicht lange und er hatte sich für eine äußerst große Zuckerstange entschieden, die himbeerrot, pfefferminzgrün und brombeerblau gesteift war. Ohne einen weiteren Gedanken an E’Cellbras mahnende Worte zu verschwenden, reichte er dem Verkäufer den Krato über den Tisch.

      Für einen Außenstehenden gab Dantra sicher ein seltsames Bild ab. Er stand da, inmitten dieser vielen Leute, und hielt sich eine bunte Zuckerstange direkt vor sein Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wie man so ein Teil aß. Streckte man die Zunge raus und leckte? Oder nahm man die Süßigkeit in den Mund und drehte sie hin und her? Oder aber biss man gleich ein ganzes Stück davon ab? Und da er sich immer noch nicht entschieden hatte, als er die Zuckerstange bereits zum Mund führte, schlug er sie sich erst einmal vor die Zähne. Der Schmerz war jedoch schnell vergessen. Als der süße Geschmack sein Ziel erreichte, wurde Dantra bewusst, dass er noch nie in seinem Leben mit einer Entscheidung so richtig gelegen hatte. Nicht, dass sich seine Laune besserte, ganz im Gegenteil. Neben der Trauer um seine Schwester plagte ihn nun auch noch das schlechte Gewissen, dass er in den Genuss kam, etwas Süßes zu essen, während Tami wegen seiner Dickköpfigkeit niemals dieses Vergnügen erleben durfte. Doch andererseits betrachtete er die Zuckerstange als seine Henkersmahlzeit und aus diesem Blickwinkel ließen sich die Schuldgefühle ertragen. So schlenderte er schmatzend und im Genuss versunken durch die quirlige Menschenmenge über den angrenzenden Viehmarkt bis zum hinteren Ende des ovalförmigen Platzes.

      Hier spielte sich ein Szenario ab, welches Dantras Aufmerksamkeit weckte. Ein Hinkelstein, mit dem spitzen Ende voran in den Boden gerammt, diente offensichtlich als Pranger. Doch das wirklich Skurrile war der Verurteilte, der daran festgebunden war. Er war so groß, dass er wahrscheinlich einem ausgewachsenen Zuchthengst in die Augen schauen konnte. Sein riesiger Kopf war nur mit dichten Haarbüscheln über seinen knorpeligen Ohren bestückt, die sich zum Kinn hin in einem zerzausten Bart trafen. Seine Schultern waren breiter als der wuchtige Hinkelstein, an den er mit einem dicken Tau gefesselt war, das an seinen massigen Handgelenken aussah wie ein Ziegenstrick.

      Auch wenn Dantra Kreaturen wie ihn nur von schlecht gemalten Bildern kannte, so war er sich doch sicher, dass es sich hier um einen Nalc handelte. Aber wie konnte das sein? Die Nalcs lebten bekanntermaßen weit unten im Lava-Dron gelegenen Teil von Umbrarus. Dass sie ihre Tiefebene verließen, war sehr ungewöhnlich. Und wenn, dann nur in einer Gruppe, aber niemals alleine und niemals drangen sie so weit in den Culter vor. Im Übrigen waren sie ein Kriegervolk. Eher würden sie sterben, als sich solchem Hohn und Spott auszusetzen. Doch dieses Geschöpf schien anders zu sein. Es machte zwar den Eindruck, als könnte es mit einem Achselzucken den ganzen Steinkoloss aus der Erde ziehen, doch ließ es die Prozedur über sich ergehen, als wäre diese Behandlung selbstverständlich. Und je länger Dantra den Nalc ansah, desto sicherer war er sich, dass von Zeit zu Zeit der Anflug eines Lächelns über sein ansonsten grimmiges, raues Gesicht huschte.

      Anders als bei gewöhnlichen Menschen, die am Pranger ihre Strafe entgegennahmen, blieb hier das pöbelnde Volk auf Abstand. Gefesselt oder nicht, man merkte sofort, dass die Leute Angst und Respekt vor dieser bedrohlichen Erscheinung hatten. Wenn sich jemand traute, einen Kohl, eine Kartoffel oder gar ein Ei nach dem Gefesselten zu werfen, passierte das meistens aus der Menge heraus. Es schien, als wollten die Menschen ihren aufgestauten Frust gegenüber einem Volk loswerden, von dem sie wussten, dass es ihnen kriegerisch weit überlegen war, allerdings ohne dabei erkannt zu werden.

      Nur ein kleiner, schmächtiger Mann hielt sich für mutiger. Er stand einen guten Schritt vor allen anderen und brüllte lauthals Beleidigungen. Dass das jedoch den Nalc nicht im Geringsten kümmerte, schien ihn noch wütender zu machen. Nach einer kurzen Denkpause ging er schnellen Schrittes auf den Gefangenen zu und Dantra sah, wie sich dabei seine Wangenknochen bewegten, was darauf hindeutete, dass er so viel Speichel in seinem Mund sammelte, wie es nur ging. Kurz bevor der Mann auf Spuckweite an ihn herangekommen war, schien der Nalc zum ersten Mal Notiz von ihm zu nehmen. In dem Moment, als der Mann seine Lippen spitzte, brüllte der Nalc los. Es dröhnte so laut, dass viele, die das Szenario nicht beobachtet hatten, zum wolkenlosen Himmel aufsahen, um nach einem plötzlich aufkommenden Gewitter Ausschau zu halten. Der Nalc riss an seinen Fesseln und der Hinkelstein wackelte instabil hin und her. Der Zerrock, der neben dem Verurteilten Wache stand, wandte sich diesem nur kurz zu, um ihm mit seinem gezogenen Schwert zu drohen. Doch als der Gefesselte ihn gar nicht beachtete, entschied sich der Zerrock, um die Lage zu entspannen, den vor Schreck wie angewurzelt stehen gebliebenen Mann beiseite und damit zurück in die Menge zu schieben. Als die Wache anschließend wieder auf ihren Posten zurückkehrte, hatte der Nalc bereits seine alte teilnahmslose Haltung wieder eingenommen. Dantra hätte am liebsten Applaus gespendet, so fasziniert war er von dem Respekt, den der Nalc trotz seiner Situation ausstrahlte. Da die Vorstellung nun aber wieder mit Gemüseweitwurf aus dem Hintergrund dahindümpelte, beschloss Dantra weiterzuziehen.

      Er sah sich die Stadt mit ihren zum Teil zweistöckigen Bauwerken noch ein bisschen genauer an, zog es dann aber vor zu verschwinden. Die Blicke der Leute wurden finsterer, je weiter er sich vom Marktplatz entfernte, und bevor man ihn noch wegen Landstreicherei neben den Nalc stellte, ließ er lieber die breite, lieblos aus bröckeligem Sandstein aufeinandergeschichtete Stadtmauer hinter sich. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er aus der Stadt verschwand. Und wenn man nicht mit schwarzer Kohle auf das Holztor Danke, dass Ihr Uka endlich verlasst! geschrieben hätte, würde er nicht einmal den Namen des Ortes kennen, den er gerade hinter sich ließ. Da der Tag sich bereits dem Ende zuneigte, beschloss Dantra, sein Nachtlager unter einer außergewöhnlich dicken Kastanie aufzuschlagen. Sie stand etwas abseits des Weges und war von dichten Kirschlorbeerbüschen umgeben, die ihn vor neugierigen Blicken schützten, falls wider Erwarten um diese Tageszeit noch Reisende vorbeikämen. Er setzte sich ins weiche Gras und lehnte sich an den dicken Stamm. Seine Zuckerstange war schon lange verdaut, und auch wenn er noch den süßen Geschmack auf den Lippen hatte, so ärgerte er sich, dass er sich nicht lieber etwas Deftiges gekauft hatte, was seinen Magen länger zum Schweigen gebracht hätte.

      „Sei’s drum“, dachte er. „Wenn ich morgen meinem Schicksal gegenüberstehe, ist es völlig egal, ob ich das mit vollem oder leerem Bauch tue.“ Er war davon überzeugt, dass diese Welt oder zumindest diese Gegend, in der er sich befand, so gefährlich war, dass es sicher nicht lange dauerte, bis er erneut auf übles Gesindel traf. Und wenn dieses sich aus seinem Tod keinen Spaß machen wollte, sondern seine Ermordung nur als lästige Notwendigkeit ansah, an der man sich ungern lange aufhielt, würde er keinerlei magisches oder mit dem Schwert geführtes Argument dagegen vorbringen. Seine Lebensfreude, sein Wissensdurst und seine unerschöpfliche Neugierde auf alles Unbekannte hatten sich nur noch einmal mühselig aufgebäumt, als er auf dem Marktplatz den Süßwarenstand erblickt und das Verhalten des Nalcs beobachtet hatte. Nun, da er zur Ruhe kam und seine Gedanken wieder um Tami und ihren Tod kreisten, waren all diese Charaktereigenschaften verschwunden wie das Wasser in einem ausgetrockneten Flussbett. Sicher hätte Dantra noch Spuren von ihnen entdecken können,