Die Versprengten. F. John-Ferrer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: F. John-Ferrer
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475544910
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sind vergessen. Der Bataillonskommandeur hat Schnaps verteilen lassen. Schnaps stärkt das Durchhaltevermögen.

      „Opa soll leben!“, grölen die Soldaten und schwenken die Trinkbecher. „Hoch soll er leben, hoch soll er leben …“

      In den Bunkern wird es immer lustiger. Derweil schneit es draußen so dicht, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen kann. Und langsam läuft die Schicksalsuhr ab.

      Die Zug- und Gruppenführer haben Posten aufgestellt, die horchen sollen. Aber es passiert nichts.

      „Krieg fällt aus wegen Schneegestöber“, lachen die Soldaten. „Krieg findet im Saale statt! Prost!“

      Der Feind greift ganz anders an als erwartet. Er nimmt sich gar nicht die Mühe, die Bunker auf den Hügeln vor Rawa frontal anzugehen – er schlägt einen Bogen und packt Rawa im Zangengriff. Beim Bataillonsstab taucht plötzlich ein fremder Offizier auf und überbringt einen Divisions-Befehl: „Feind ist bereits durchgebrochen. Kompanien zurückziehen!“

      Noch ehe man an den fremden Offizier Fragen richten kann, ist er weg. War es ein als Offizier getarnter Russe? Ein Agent? Eine Rückfrage beim Regiment bleibt unbeantwortet. Die Verbindung ist plötzlich unterbrochen.

      „Ja, Panzergeräusche südlich und nördlich von Rawa!“, heißt es jetzt.

      „Panzer!“, gellt es von Mund zu Mund. „Panzer!“

      Der Bataillonskommandeur räumt seinen Gefechtsstand. „Kompanien zurückziehen!“, befiehlt er noch.

      In Rawa rattern Maschinengewehre, krachen Handgranaten, klirren Panzerketten. Und es schneit noch immer, es schneit, als bräche der Himmel ein. Der Kampflärm erstickt in dem niedersinkenden weißen Vorhang.

      Der Pionierzug hat sich müde gesungen. Weil kein Feind zu hören und zu sehen, legt man sich schlafen. Der Krieg findet eben erst morgen statt.

      Lechner kann nicht schlafen. Er muss an viele Dinge denken – an die elf Jahre Dienstzeit, an die siegreichen Feldzüge und an den spinnenden Zinnenberg. Tatbericht! So ’n Quatsch! Warum bloß alles so still ist? Nicht einmal das Telefon rasselt. Ob man mal bei der Kompanie anfragen soll?

      Lechner nimmt den Hörer vom Apparat und kurbelt. Lange meldet sich niemand. Dann eine lallende Stimme:

      „Huber … Metzgerei Huber.“

      Lechner stutzt. „Wer ist dort?“

      Der Teilnehmer schnauft hörbar, und dann lallt er kaum verständlich und wie aus dem Schlaf geweckt: „Emil Huber … Metzgermeister … München … Fachingerstraß’n.“ Dann bleibt es still. Der besoffene Sprecher hat wohl aufgelegt.

      So sehr Lechner auch am Apparat kurbelt, es meldet sich niemand mehr.

      Wie betäubt hockt Lechner vor dem Fernsprechgerät. Die Gedanken überschlagen sich. Was ist passiert? Was ist bei der Kompanie los? Sind denn alle besoffen? Haben alle den Verstand verloren?

      „Alarm!“, schreit Lechner, und die Schläfer sausen aus den Decken. „Pionierzug antreten. Alles mitnehmen! Los, Riebl, Unteroffizier Lehmann und die anderen verständigen: alles mit Waffen und Klamotten antreten!“

      „Was’n los?“, fragen die Soldaten. „Ist der Iwan schon da?“

      Der Zug tritt an.

      Es schneit noch immer, aber nicht mehr so dicht. Das feindliche Artilleriefeuer ist verstummt. Aus Richtung Rawa hört man MG-Stöße. Sie klingen fern und stotternd.

      „Etwas stimmt nicht, Kameraden“, sagt Lechner, als der Zug mit sämtlichen Waffen angetreten ist. „Der Kompaniegefechtsstand meldet sich nicht mehr, aber es ist trotzdem jemand dort. Der Huber … ich weiß nicht … Na ja, wir werden ja sehen. – Rechtsum – ohne Tritt marsch!“

      Schweigend verschwindet der Zug über den Hang und trabt im Gänsemarsch durch die Nacht.

      „Was da wieder los ist“, sagt Willi zu Emmes.

      „Wir werden ja sehen, hat der Sepp Lechner gesagt“, erwidert Emmes.

      Als der Pionierzug beim Kompaniegefechtsstand ankommt, schneit es nur noch dünn. In Rawa flackert Schützenfeuer, zwischendurch kleckert ein MG.

      „Wartet hier“, sagt Lechner zu seinen Leuten und verschwindet auf der in den Bunker führenden Treppe.

      „Mensch“, sagt jemand, „da kennt sich ja kein Aas mehr aus.“

      Eine andere Stimme erwidert: „Vielleicht pennen sie alle.“

      Lechner reißt die Zeltbahn vom Eingang. Der Bunker ist leer. Auf dem Tisch flackert ein Hindenburglicht. Die Karte liegt noch da, darauf die mit bunten Nadeln abgesteckte Frontlinie. Die beiden MG-Tische vor den Schießscharten sind leer. Am Boden liegt ein einsamer Stahlhelm.

      Als Lechner einen Schritt tut, kollert etwas vor der Fußspitze: eine leere Schnapsflasche. Und der Raum riecht nach Alkohol, nach kaltem Zigarrenrauch.

      Lechner wischt mit dem Fäustling unter der Nase weg und schüttelt benommen den Kopf.

      „He!“, ruft er dann. „Hallo!“

      Da ertönt aus dem Hintergrund ein Grunzton. Unter einem Deckenhaufen liegt Emil Huber, der Spieß, betrunken. Total betrunken. Ohne Stiefel. Halb angezogen. Der Fernsprechapparat steht neben dem Lager; der Hörer liegt am Boden, wie er aus der Hand gefallen ist.

      Mit drei langen Schritten ist Lechner heran, packt Huber grob am Kragen und zerrt ihn hoch.

      „Huber, du besoffenes Schwein! Los, auf! Mach’s Maul auf! Was ist hier vorgegangen?“ Er beutelt den schweren Mann.

      Huber reißt mühsam die kleinen Äuglein auf, guckt sich verwirrt um, lallt etwas und schmatzt mit den Lippen. Dann will er sich wieder hinlegen, aber Lechner stellt ihn mit einem Fluch auf die wackeligen Beine.

      „Mach’s Maul endlich auf, du Nachtwächter, du besoffener!“, schreit er so laut, dass es die draußen stehenden Soldaten hören.

      Schritte poltern die Treppe herunter. Lehmann und noch ein paar vom Zug kommen herein und gucken verdutzt auf das seltsame Bild.

      „Was ist denn los, Sepp?“, fragt Lehmann und kommt rasch heran.

      „Du siehst es ja“, schnaubt Lechner. „Fort sind sie alle. Bloß den da haben sie hier gelassen. – Huber, Mensch, nun rede doch schon!“

      Huber ist jetzt einigermaßen wach. Er rülpst und blinzelt verwirrt um sich. Sein grauer Schnauzer hängt traurig herab, das struppige Haar stachelt um den runden Kopf.

      „Seppei …“, lallt er jetzt, „ach … du bist’s …“

      „Wo sind die andern?“, fragt Lechner ungeduldig. „Wo ist der Chef … der Zinnenberg … wo sind sie hin?“

      Huber guckt sich verwundert um, fährt sich mit der fleischigen Hand über Gesicht und Haare.

      „Marandjosef“, stammelt er, „i bin ja alloan da!“

      „Was war los?“

      „I … i woass nix, Seppei …“, grient Huber und torkelt auf den Tisch zu. „Herrschaftsseiten … wenn ich nur wüsst’ … mein Kopf brummt wie a Bienenstock …“

      „Du musst doch wissen, was hier los war!“, schnaubt Lechner zornig und versetzt dem dicken Münchner einen Stoß.

      „G’soffa hab’n ma“, lallt Huber. „Ich woaß nur noch, dass wir g’soffa hab’n …“ Er sinkt auf den Klappstuhl und reibt sich mit den dicken Händen das Gesicht, um nüchtern zu werden.

      „Das ist vielleicht eine Sauerei“, sagt Lehmann zu Lechner. „Die sind alle abgehauen – und den haben sie einfach dagelassen.“ Lehmann zeigt auf Huber, der sich langsam umdreht und blöd die beiden anstarrt.

      „Jessas“, lallt er, „jetzt … jetzt merk ich endlich, was g’scheh’n is