Es fühlte sich an wie früher, stellte Nardon staunend fest. Sie waren unterwegs, als wäre seit ihrer letzten gemeinsamen Reise keine Zeit vergangen. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie ihre Schrittlängen einander angeglichen hatten, und seither marschierten sie einträchtig nebeneinander her wie in den alten Zeiten. Auch andere Dinge hatten sich nicht geändert: Lomir plauderte unablässig; sein eigener Gesprächsfluss spülte ihn von einem Thema zum nächsten, und während Nardon sein Interesse mit gelegentlichen Einwürfen bekundete, wurde er in kurzer Zeit umfassend über alles informiert, was sich in Lomirs Leben während der letzten zehn Jahre zugetragen hatte. Das Wandern gestaltete sich mühelos und kurzweilig auf diese Weise, und gelegentlich gelang es Nardon sogar, die Bilder der verkohlten Trümmer aus dem Kopf zu bekommen, die ihn verfolgten.
Sie verbrachten eine ruhige Nacht unter Bäumen auf einem Streifen von weichem Waldgras und waren bei den ersten Anzeichen von Tageslicht bereits wieder auf den Beinen. Das Wetter war ihnen wohlgesonnen, und so kamen sie gut voran.
Am Nachmittag des fünften Tages erreichten sie Wiesenheim, wo Lomir sich einige Stunden Aufenthalt ausbat. Nardon erinnerte sich an den roten Kringel, der sich auf Lomirs Karte neben dem Stadtnamen befunden hatte, und gab seufzend nach.
Die Stadt war hektisch und übervölkert, denn auf einem weiten Gelände vor den Stadtmauern fand der Herbstmarkt statt, ein Ereignis, das in der Umgebung kaum jemand verpassen wollte. Hier hatte Nardon vor Jahren bei einem Kuriositätenhändler die Karte erstanden, die ihn schließlich nach einer Serie haarsträubender Abenteuer zur Grabanlage des Shakh geführt hatte. Der Händler hatte keine Ahnung gehabt, was er da verkaufte, ebenso wie Nardon nicht mehr als eine vage Neugier zum Kauf bewogen hatte. Der Erinnerung folgend beschloss Nardon, zu sehen, ob der Händler noch immer seinen Stand auf dem Herbstmarkt hatte. Lomirs Zeitplanung war für gewöhnlich äußerst optimistisch, nicht länger als ein Stündchen würde er benötigen, wie er Nardon versprochen hatte; aus Erfahrung rechnete Nardon nicht vor dem Abendessen mit der Rückkehr seines Freundes.
Es herrschte reger Betrieb auf dem Festgelände. Viele Wiesenheimer Familien schienen den Nachmittag zu einem Ausflug zu nutzen. Das Gras zwischen den Zelten und Ständen war bereits vollständig niedergetrampelt und bildete eine feste, elastische Unterlage, auf der es sich angenehm ging. Ein Gewirr von Düften lag in der Luft. Nacheinander passierte Nardon eine Geflügelbraterei, einen Zuckerbäcker, eine Schmalzbäckerei, einen Fischhändler, der kleine auf Stöcke gespießte Salzfische anbot, einen Wurstbräter und schließlich ein gewaltiges Kohlebecken, über dem an einem armdicken Spieß ein halber Ochse briet. Hinter den Ständen hatte man einen breiten Weg frei gelassen, dann folgten mit Seilen und Pflöcken abgesteckte Pferche, in denen sich Schweine, Ziegen, Gänse und Kühe drängten, die in den nächsten Tagen noch den Besitzer wechseln sollten. Eine Weile sah Nardon zu, wie zwei Männer versuchten, eine Kuh aus dem Schulterschluss mit ihren Gefährtinnen zu lösen. Sie stand spreizbeinig und schüttelte wild den Kopf mit den eindrucksvollen Hörnern. Bevor sein müßiges Zusehen unhöflich wirken konnte, ging er weiter und schlug einen Bogen um eine Gruppe Sidarthi, die große, blank gestriegelte Pferde an einen Zaun gebunden hatten. Diese bunt gekleideten Leute waren Fahrende, die sowohl für ihre hervorragenden Pferde als auch dafür bekannt waren, dass sie von Zwergen noch weniger hielten als die sesshaften Menschen. Nardon hatte keine Lust, das Schmähopfer einer Gruppe großspuriger junger Männer zu werden, die mit ihren farbenfrohen Bauchschärpen und goldenen Ohrringen neben ihren Pferden an dem Balken lehnten. Er kam an ihnen vorbei, ohne Aufsehen zu erregen, und verschwand mit einem Strom fröhlicher Wiesenheimer in der nächsten Budenstraße. Vorbei an Axtwerfern, Ringkämpfen, Bierschänken, Andenkenhändlern, Hütchenspielern und Verkaufsständen, an denen man von Silberschmuck über Töpfe und Socken und Weidenkörbe und Tuchballen alles kaufen konnte, wofür das Geld reichte, wanderte er einmal um das Rund der Festwiese, ohne den Kuriositätenhändler von damals wiederzufinden. Schließlich, einen Krug Bier und eine Bratwurst später, wurde es Zeit, sich zum verabredeten Treffpunkt mit Lomir aufzumachen, wo dieser einen weiteren Krug Bier später auch schließlich eintraf. Er wirkte höchst zufrieden und beschwingt.
»Es läuft gut«, berichtete er und quetschte sich neben Nardon auf die Bank vor dem Festzelt des Gasthofs Zur Butterblume, in dem laut Lomir das beste dunkle Bier der Stadt gebraut wurde. »Ich hatte vor einem halben Jahr ein Grundstück mit einem baufälligen Haus in der Innenstadt gekauft – im Namen von Regar Wertschatz natürlich. Prima Lage, an einer der Hauptstraßen. Das Haus ist mittlerweile abgerissen, und sie bauen schon an dem neuen. Es wird wohl gedeckt sein, bis der Winter kommt. Im Frühjahr können wir eröffnen.«
»Toll«, sagte Nardon, der trotz ehrlicher Bemühung die erforderliche Begeisterung nicht mehr aufbrachte. Er fühlte sich müde nach dem langen Tagesmarsch und bereute mittlerweile seinen Ausflug auf den Herbstmarkt: zu laut, zu hektisch, zu eng, zu viele Menschen, die einem Zwerg unachtsam auf die Füße stiegen.
»Wollen wir uns nicht ein ruhigeres Plätzchen suchen?«, schlug er vor, doch ohne viel Hoffnung: Lomir schien sich gerade wohl zu fühlen. »Wir könnten in der Stadt etwas essen und von mir aus dort irgendwo übernachten.«
»Ruhig ist es in der Stadt«, bestätigte Lomir, »aber zu essen gibt es nichts. Die Gasthöfe haben alle ihren Betrieb auf den Markt verlegt. Ich habe uns aber bereits Zimmer in der Goldenen Krone besorgt. Sie bieten spezielle Zwergenzimmer mit niedrigeren Möbeln – die einzigen übrigens, die noch zu haben waren. Nur zu essen kriegen wir dort höchstens ein Butterbrot.«
»Würde mir genügen«, sagte Nardon.
»Mir nicht«, sagte Lomir. »Nicht solange ich weiß, dass einige Straßen weiter sich Schweine am Spieß drehen.«
Die Magd, die kurz darauf erschien, um die Bestellung aufzunehmen, trug ein freizügig ausgeschnittenes Mieder und ein keckes Lächeln und ließ Lomir, als sie zum nächsten Tisch wechselte, mit verklärtem Gesicht zurück.
»Hast du gesehen?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Nardon ungerührt, obwohl er es sehr wohl wusste – es war beim besten Willen kaum zu übersehen gewesen.
»Du bist unverbesserlich.« Lomir reckte den Hals, um sich die Rückansicht der Magd nicht entgehen zu lassen.
Das Essen kam, begleitet von überschäumenden Bierkrügen. Während sie aßen, schlossen sich um sie herum die letzten Lücken auf den Bänken. Auch der Strom der Festbesucher, der sich gemächlich durch die Zeltstraßen wälzte, wurde immer dichter. Es wurde laut und warm. Die Klänge von Fiedeln und Schellenbändern drangen zu ihnen herüber. Lomir unterhielt sich angeregt mit seinem Gegenüber, einem Rübenbauern dem Anschein nach, und legte ihm die Vorteile eines großen Handelspartners dar, an den er seine gesamte Ernte gebündelt verkaufen könne.
Nardon sah den Ärger kommen, im Gegensatz zu Lomir. Eine Gruppe Sidarthi, offenbar schon nicht mehr ganz nüchtern, steuerte quer zum Besucherstrom auf das Festzelt der Butterblume zu. Die Beschwerden der angerempelten Bürger wurden mit Gelächter und Schmähungen beantwortet. Die Sidarthi blieben zwischen den voll besetzten Bänken stehen und sahen sich um, offenbar auf der Suche nach einem freien Platz. Es waren fünf junge Männer in farbenfrohen Hemden und Stulpenstiefeln und eine stark geschminkte, dafür umso sparsamer bekleidete junge Frau, die einen der Männer bei der Hand hielt. Nardon zog den Kopf ein. Es würde Ärger geben, das lag in dem herausfordernden Blick der Neuankömmlinge, und er hätte seinen Bart verwetten mögen, dass dieser Ärger sie treffen würde wie der Blitz die Eiche.
»Lomir«, sagte er und stieß seinen Freund an.
»… legen wir großzügige Kellerräume an, die wir als Lager benutzen, je tiefer, je besser, um die Waren besonders im Sommer gut zu kühlen …«
»Lomir!«