Trotzig ließ Torsten das Köpfchen hängen. Wieder einmal dachte er an Tanja. Sein kleines Herz sehnte sich mächtig nach seiner Schwester. Seit er denken konnte, war er noch keinen Tag von ihr getrennt gewesen. Deshalb vermisste er Tanja gerade jetzt doppelt.
Torsten legte die Arme über das Schulheft und barg das Gesicht darin. Tränen rannen aus seinen Augen, tropften auf das Papier. Zu spät fiel ihm ein, dass sie die Tinte verwischen würden. Als er nachsah, war es bereits geschehen. O weh! Miss Scott würde wieder sehr böse werden. In einigen Minuten würde sie hier sein.
In Gedanken sah Torsten bereits ihr strenges Gesicht vor sich. Es war nicht nur der Wunsch, dem Strafgericht zu entrinnen, sondern genauso die Sehnsucht nach der Schwester, was ihn in den nächsten Minuten einen abenteuerlichen Plan fassen ließ. Er würde weglaufen! Zurück nach Sophienlust. So weit konnte das doch bis dorthin nicht sein!
Rasch sah sich Torsten in seinem düster wirkenden Zimmer um. Außer einigen Kleidungsstücken hatte er nichts mitgebracht. Es gab auch nichts hier, woran er hätte Freude haben können. Die Möbel waren schwer und dunkel, so richtig für Erwachsene gemacht. Und die wenigen Bücher, die Miss Scott auf das Regal gestellt hatte, waren dicke Lexika ohne Bilder. Es gab nichts, das Torsten hätte mitnehmen wollen. Nur den kleinen Ball, den er immer in der Hosentasche trug, und der ihm zwei Tage Stubenarrest eingetragen hatte, wollte er nicht hierlassen.
Auf Zehenspitzen schlich Torsten zur Tür, blieb dahinter stehen und lauschte. Im Haus war es still wie immer. Torsten schlüpfte durch den Türspalt und hastete so leise wie möglich durch den langen Flur zur Treppe. Glücklicherweise traf er niemanden vom Hauspersonal. Ängstlich schielte er zu der Tür hin, hinter der das Zimmer von Miss Scott war. Die Tür blieb geschlossen, nichts regte sich.
Jetzt war Torsten bereits in der Halle. Er drückte sich an der Wand entlang und erreichte die Hintertür. Sie war zum Glück unverschlossen.
Torsten atmete auf, als er im Freien stand. Jetzt galt es nur noch, ungesehen auf die Straße zu kommen. Schon rannte er hinüber zu den Büschen. In ihrem Schutz wollte er sich zum Gartentor pirschen.
Der Wind pfiff kühl, und von den Blättern tropfte Wasser, denn am Morgen hatte es geregnet. Schon nach wenigen Schritten war Torstens Pulli feucht und klebte dem Jungen unangenehm kalt auf der Haut. Er fror. Seine Zähne klapperten vor Kälte aufeinander. Doch er dachte nicht daran, aufzugeben. Er wollte nach Sophienlust, ganz gleich wie beschwerlich der Weg auch sein würde. Tanja wollte er wiedersehen, seine kleine Schwester.
Torsten bückte sich und schlüpfte unter den Hecken durch. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, Dornen zerkratzten seine Hände. Er achtete nicht darauf. Nichts hätte ihn zur Rückkehr in das Haus des Onkels bewegen können. Etwa dreißig Meter abseits vom Gartentor kletterte er über den Zaun und hüpfte geschickt auf die Straße. Dort begann er sofort zu laufen. Er wollte möglichst schnell nach Sophienlust kommen, auf jeden Fall, bevor es dunkel war.
Immer wieder sah Torsten ängstlich zurück. Nein, er wurde nicht verfolgt. Wahrscheinlich hatte noch niemand sein Ausreißen bemerkt. Von vorn erwartete der Junge keine Gefahr. Deshalb sah er auch nicht, dass Claudia den Bürgersteig entlangkam. Er lief ihr genau in die Arme. Erschrocken fuhr er zusammen.
»Nanu, was hast du vor? Miss Scott lässt dich doch nicht allein in die Stadt gehen!« Claudia betrachtete verwundert ihren kleinen Cousin. Reichlich zerkratzt und zerschunden sah er aus. Keuchend ging sein Atem.
»Ich laufe weg!«, stieß das Kind ängstlich hervor. »Bitte, Claudia, sag keinem etwas davon. Ich will zu Tanja. Sie ist sicher genauso allein wie ich. Und vielleicht weint sie. Ich muss sie trösten. Das habe ich Mutti versprochen!« Torsten schnupfte.
Liebevoll nahm Claudia den kleinen Kerl in die Arme. Sie konnte dieses Kind ja so gut verstehen. »Ich kann nicht zulassen, dass du die weite Strecke zu Fuß gehst.«
»Nicht zurückschicken, Claudia. Bitte, nicht zurückschicken«, jammerte der Kleine. Flehend sah er zu der jungen Frau auf.
»Warte hier«, tuschelte sie kameradschaftlich. »Ich komme gleich wieder zurück.«
»Was willst du tun?« Torsten klammerte sich enger an seine Cousine.
»Ich werde den Wagen holen, und dann fahren wir beide gemeinsam nach Sophienlust«, flüsterte Claudia dem Kleinen ins Ohr.
»Und du verrätst Miss Scott nichts?«
»Auf keinen Fall!« Claudia war sich darüber im Klaren, dass es nicht richtig war, dem Kleinen zur Flucht zu verhelfen. Doch die Art, wie er im Hause ihres Vaters behandelt wurde, war auch nicht richtig. Und das rechtfertigte ihren Plan.
»Mach schnell, Claudia«, wisperte Torsten. »Ich bleibe hier stehen.«
Claudia brachte wenige Minuten später nicht nur ihren Wagen, sondern auch einen frischen warmen Pulli für ihren kleinen Schützling, feste Schuhe und einen Anorak.
Ohne Zwischenfall kamen die beiden Verschwörer nach Sophienlust. Torsten wurde mit großem Hallo empfangen. Doch er hatte kaum Augen für die Kameraden. Er umarmte still und innig sein Schwesterchen Tanja.
Auch das kleine Mädchen hielt den Bruder eng umschlungen. Beide Kinder weinten. Es war ein erschütternder Anblick, ein Anblick, der die Erwachsenen ergriff und nachdenklich werden ließ. Wenn Claudia anfänglich auch Bedenken gehabt hatte, ob das, was sie getan hatte, richtig war, jetzt wusste sie, dass sie gar nicht anders hätte handeln können. Es war unmenschlich, die Geschwister zu trennen.
Denise von Schoenecker kam Claudia entgegen. An ihrer Seite ging ein junger Mann, den die Ertel-Tochter auch bei finsterer Nacht sofort wiedererkannt hätte. Sie hatte in den vergangenen Tagen oft an Klaus Herzberg gedacht. Doch sie hatte nicht gehofft, ihn jemals wiederzusehen.
Klaus Herzberg lachte unbekümmert. Er war glücklich darüber, dem Mädchen, in das er sich verliebt hatte, so rasch wieder zu begegnen, und er zeigte diese Freude ganz offen. Seine dunklen Augen strahlten.
Denise von Schoenecker, die nicht wissen konnte, dass sich die beiden bereits kannten, machte das junge Paar miteinander bekannt. Als sie Claudias Namen nannte, fuhr der junge Mann erschrocken zusammen.
»Sie …, Sie sind Claudia Ertel?«, stammelte er und wurde blass. Siedend heiß fiel ihm ein, wie respektlos er von Johannes Ertel gesprochen hatte. Claudia musste beleidigt sein. Ausgerechnet sie, die ihm so gut gefiel, zu der er sich so mächtig hingezogen fühlte.
Klaus war froh, dass sich Denise von Schoenecker jetzt den Kindern zuwandte. Mütterlich zog sie Torsten in die Arme und sagte ihm, dass er hierbleiben dürfe und dass sie mit seinem Onkel schon alles in Ordnung bringen würde. Wie sie den Dickkopf Ertel davon überzeugen konnte, dass er die Geschwister nicht länger trennen durfte, wusste sie allerdings selbst noch nicht. Sie nahm sich vor, mit Alexander darüber zu reden. Ihr Mann wusste oft in ausweglosen Situationen Rat und Hilfe.
»Es tut mir schrecklich leid«, murmelte Klaus schuldbewusst, »dass ich kürzlich so hässlich über Ihren Vater geredet habe. Ich weiß gar nicht, wie ich diesen Fehler wiedergutmachen soll.« Er machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie …«
Der junge Lehrer fühlte sich ganz elend. Er hatte davon geträumt, das hübsche Mädchen mit den klaren grünen Augen und dem lockigen braunen Haar zu seiner Frau zu machen. Doch damit war es jetzt vorbei. Niemals konnte er es wagen, der Tochter des reichen Fabrikanten einen Heiratsantrag zu machen.
»Sie hatten völlig recht mit dem, was Sie sagten. Und Sie haben mir den Mut gegeben, das alles auch meinem Vater zu sagen. Er hält sich nämlich für einen unfehlbaren Halbgott. Niemand wagt es, ihm etwas Unangenehmes zu sagen. Auch ich habe bisher nie den Mut gehabt. Aber jetzt ist das anders.« Claudia richtete sich ein wenig auf. Ihre weichen, fast noch kindlichen Züge verrieten Entschlossenheit. »Ich werde dafür sorgen, dass Tanja und Torsten nicht mehr getrennt werden und dass sie eine glückliche Kindheit verleben dürfen. Sie sollen nicht gezwungen werden, von klein auf wie Erwachsene zu leben.«
»Ich habe großen Respekt vor Ihnen,