»Das ist unmöglich«, entschied die Erzieherin sofort.
»So viel ich weiß, ist das Kind erst einen Tag hier. Wenn es etwas angestellt hat, dann sicher nur aus Unwissenheit.«
»Überlassen Sie die Beurteilung bitte mir«, antwortete Miss Scott hochmütig. »Herr Ertel lässt mir in der Erziehung seines Neffen völlig freie Hand. Und ich bin der Ansicht, dass der Junge sich sofort in die Ordnung dieses Hauses fügen muss. Das ist auch die Auffassung seines Onkels. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Feindseligkeit war im Blick der Engländerin.
»Können wir dann Torsten ein andermal besuchen? Vielleicht Ende dieser Woche?«
»Sofern Sie sich vorher telefonisch anmelden, habe ich nichts dagegen.« Miss Scott neigte den Kopf, um damit anzudeuten, dass die Unterhaltung beendet sei.
Klaus Herzberg war froh, das ungastliche Haus wieder verlassen zu können. Er verabschiedete sich höflich und ging dann mit Tanja den Weg zurück.
Immer langsamer wurden die Schritte des kleinen Mädchens. Tränen kullerten über die dicken rosigen Bäckchen.
»Armer Torsten«, schluchzte Tanja. »Es gefällt ihm sicher nicht hier. Wir müssen es Tante Isi erzählen. Dann holt sie ihn zurück. Tante Isi duldet nicht, dass ein Kind schlecht behandelt wird.«
Klaus Herzberg schwieg. Warum sollte er Tanja erzählen, dass es Gesetze gab, die über das Schicksal von Waisenkindern entschieden? Gesetze, an denen auch Tante Isi nichts ändern konnte? Gesetze, die Leute wie Johannes Ertel zum Vormund beriefen? Niemand würde Torsten helfen können. Denn er wurde in diesem Haus luxuriös untergebracht, gekleidet und ernährt. In der Tatsache, dass man ihm Stubenarrest zudiktiert hatte, würde niemand eine Misshandlung oder eine Verletzung des Sorgerechts sehen. Die seelische Grausamkeit war nur für Eingeweihte zu erkennen.
*
Claudia hatte sich einige Bücher besorgt und bog nun mit dem Fahrrad in die ruhige Vorortsstraße ein. Tanja, die an der Hand Klaus Herzbergs das Ertelsche Grundstück verließ, sah die Cousine sofort. Sie riss sich von Klaus los und rannte Claudia entgegen.
»Denk nur, sie haben Torsten eingesperrt!«, berichtete sie aufgeregt und entrüstet. »Er darf erst übermorgen wieder heraus! Das ist doch gemein, ganz gemein!«
Claudia lehnte ihr Fahrrad an den Gartenzaun und nahm die kleine Cousine erfreut in die Arme.
»Tanja-Spatz, wie kommst du denn hierher?« Sie drückte den zarten kleinen Körper innig an sich.
»Onkel Klaus hat mich mitgenommen«, erzählte Tanja und deutete mit der Hand über die Schulter. »Ich kenne ihn erst seit heute, aber er ist ganz lieb. Er macht das Kästchen auf, das wir gefunden haben, und dann bekommen wir ganz viel Geld dafür.«
Claudia verstand von dem kindlichen Geplapper nicht allzu viel. Sie schaute auf und sah direkt in die dunklen Augen des jungen Mannes, der langsam daherkam.
Es war ein Blick, der wie ein Blitz einschlug. Sekundenlang vermochte Claudia ihre Augen nicht abzuwenden. Es war, als sei sie hypnotisiert. Ihr Herz begann dumpf und laut zu schlagen. Sie fühlte, dass sie da einem Menschen begegnete, der ihr nicht nur sofort sympathisch war, sondern ihr auch ausgezeichnet gefiel. Er war groß, schlank und sportlich. Sein Auftreten war von einer erfrischenden Natürlichkeit. Das halblange dunkle Haar lag leicht gewellt um seinen schmalen Kopf mit dem energischen männlichen Profil. Was Claudia aber am besten gefiel, das war das lausbubenhafte Lächeln, das den Fremden so ungemein sympathisch machte.
Klaus Herzberg stellte sich vor. »Ich bin ein kleiner Lehrer an der Grundschule von Maibach und befasse mich in meiner Freizeit ein wenig mit Archäologie«, untertrieb er liebenswürdig. »Dieses Hobby hat mich nach Sophienlust geführt, und dort lernte ich Tanja kennen.«
Claudia hätte immerzu der dunklen, angenehm klingenden Männerstimme lauschen mögen. Sie war fasziniert vom Glanz der dunklen Augen. Und doch ließ sie sich nichts anmerken, sondern blieb kühl und sachlich.
»Du musst Torsten helfen, Claudia«, drängte das kleine Mädchen. »Du musst dieser dünnen Frau sagen, dass sie ihn nicht einsperren darf!«
Claudia, die vom Missgeschick des kleinen Cousins noch gar nichts wusste, fuhr Tanja tröstend über das blonde Haar. »Ich kümmere mich darum, das verspreche ich dir.«
Klaus Herzberg hatte keine Ahnung, dass Claudia die Tochter des reichen Fabrikanten war. Wie hätte er das auch ahnen sollen, da das hübsche Mädchen vor ihm schlichte einfache Kleidung trug und mit dem Fahrrad unterwegs war. Woher Tanja das Mädchen kannte, darüber machte er sich keine Gedanken.
»Ich habe den Eindruck, dass der alte Geizkragen in der Wahl der Betreuerin für Torsten keine besonders glückliche Hand hatte. Wahrscheinlich ging es ihm nur darum, mit der englischen Erzieherin Eindruck zu schinden. Der Junge kann einem wirklich leidtun. Überhaupt bin ich der Ansicht, dass Ertel viel zu alt ist, um an einem siebenjährigen Kind Vaterstelle zu vertreten. Er hat ja keine Ahnung, was so ein kleiner Kerl braucht. In meinen Augen ist das ein Missstand. Ertel hat wohl viel Geld, aber er hat überhaupt kein Verständnis für ein Kind.«
Claudia unterdrückte ein Grinsen. Was Herzberg da sagte, war wahr, doch es ließ sich nicht ändern. Sie dachte an die heftige Auseinandersetzung, die sie wegen Torsten mit ihrem Vater gehabt hatte. Er wollte sich absolut nichts sagen lassen. Stur beharrte er auf seinem Willen und seinen veralteten Grundsätzen.
»Es ist schade, dass ich den alten Herrn nicht angetroffen habe, sonst hätte ich ihm meine Meinung gesagt. Doch vielleicht lässt sich das nachholen, wenn ich mit Tanja das nächste Mal komme.«
»Sie kommen wieder?« Claudia errötete ein wenig. Süß sah sie aus mit den glühenden Wangen und den mädchenhaft niedergeschlagenen Augenlidern. Ihre langen dichten Wimpern hoben sich reizvoll von der sonnenbraunen Haut ab.
»Ich habe Tanja versprochen, dass ich sie zu ihrem Bruder bringe.« Klaus lächelte gewinnend. Er fand das Mädchen, das er durch Zufall hier auf der Straße kennengelernt hatte, außergewöhnlich reizvoll.
»Da werden Sie wenig Glück haben. Miss Scott schirmt Torsten nach außen ab und duldet nicht, dass er Kontakt mit anderen Kindern hat.«
»Auch nicht mit seiner Schwester?«
»Gerade mit ihr nicht.« Bekümmert dachte Claudia an die Absicht ihres Vaters, die beiden Kinder einander zu entfremden.
»Hat man die Absicht, einen menschenscheuen Eigenbrötler aus ihm zu machen?«, fragte der junge Mann voll Ironie. Er war überzeugt, eine Hausangestellte des Fabrikanten vor sich zu haben.
»Man will ihn zum künftigen Erben erziehen«, versuchte Claudia den Standpunkt ihres Vaters zu erklären.
»Das mag später vielleicht interessant sein für Torsten, jetzt allerdings bringt es nur Nachteile mit sich. Ich finde es verantwortungslos, ein Kind, das sich nicht wehren kann, der Willkür einer solchen Erzieherin auszusetzen. Aber ich werde sicher noch Gelegenheit finden, das dem alten Ertel zu sagen.«
»Ich finde es nett von Ihnen, dass Sie sich für Torsten einsetzen wollen, obwohl Sie ihn doch gar nicht kennen.« Hatte Claudia anfänglich das gute Aussehen des jungen Mannes imponiert, so war es jetzt noch mehr dessen Einstellung. Hier war ein Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Ein Mensch, der nicht zögerte, sich selbstlos für andere einzusetzen. Ein Mensch, der nicht nur ans Geldverdienen dachte, sondern auch an die Interessen anderer.
In Gedanken verglich Claudia den Fremden mit Horst Grebe, mit dem Mann, mit dem sie sich in einigen Tagen verloben sollte. Einen größeren Gegensatz wie diese beiden konnte man sich nicht denken. Grebe, eitel, herausgeputzt wie ein Pfau, wohlgenährt und stets ein bisschen glänzend, selbstbewusst, unnahbar und hartherzig. Herzberg in allem gerade das Gegenteil, bescheiden und liebenswert.
Eigentlich hatte sich Claudia noch nie besonders