»Bringen Sie uns einen Tee«, bat Denise die Angestellte und deutete der jungen Besucherin gleichzeitig an, in der gemütlichen Plauderecke Platz zu nehmen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme. Ich weiß einfach keinen Rat mehr. Ich muss einmal mit jemandem über alles sprechen«, brachte Sissi hastig hervor.
»Sie sind in Sophienlust immer willkommen, Sissi«, meinte die charmante Denise liebenswürdig. Nick hatte ihr das Mädchen vor einigen Tagen vorgestellt, und sie hatte die Tochter des Verlegers sofort sehr sympathisch gefunden. »Geht es Ihnen wieder besser.«
Sissi zuckte nervös mit den Schultern. »Es war ein kleiner Schwächeanfall. Ich bin nicht krank. Meine Stiefmutter hat das nur dem Arzt eingeredet, damit ich nicht zur Schule zu gehen brauche. Nick war bei mir. Er hat mich besucht und viele Fragen an mich gerichtet. Aber ich konnte ihm nicht alles erklären. Er ist doch noch ein Junge. Bei Ihnen, Frau von Schoenecker, ist das anders. Sie haben viel Ähnlichkeit mit meiner verunglückten Mutter. Sie sind so freundlich und so lieb wie sie.« Tränen glänzten in Sissis blauen Augen.
»Aber ihre Stiefmutter ist doch …«
Weiter kam Denise nicht. Sissi unterbrach sie. »Sie denkt immer nur an sich und an ihre Pläne. Sie ist eine so starke Persönlichkeit, dass ich Angst vor ihr habe. Aus Angst habe ich immer alles getan, was sie wollte. Aber jetzt geht es nicht mehr. Weil ich nicht zulassen kann, dass Tim in Heimen aufwächst.«
Der Tee wurde gebracht. Das Hausmädchen stellte zwei Gedecke und eine Schale mit duftendem Gebäck auf den Tisch.
»Was weißt du über unser Findelkind?«, fragte Denise leise, nachdem die Angestellte gegangen war. Eigenhändig goss sie den Tee ein und reichte Sissi Sahne und Zucker.
»Er ist mein Baby«, stieß Sissi unvermittelt hervor.
Denise war so überrascht, dass die Zuckerzange ihren Fingern entfiel. »Das kann doch nicht wahr sein!« Sie sah das junge Mädchen plötzlich mit ganz anderen Augen. War Sissi gar kein Kind mehr, für das alle sie hielten?
»Es ist wahr.« Sissi konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Unaufhörlich rannen sie über ihr bleiches Gesicht. »Ich war erst sechzehn, als ich Frank Brehm kennenlernte. Er war Student, hatte keine Eltern mehr und war so einsam wie ich. Deshalb haben wir uns auch so gut verstanden. Wir hatten uns sehr, sehr lieb, obwohl wir uns jeden Tag nur wenige Minuten sehen konnten.«
Sissis Kopf sank immer weiter gegen die Brust. Sie sprach sehr leise. Denise hörte ihr still zu, unterbrach das Geständnis des Mädchens mit keinem Wort.
»Im letzten Herbst war Frank plötzlich verschwunden. Ohne Abschied, ohne Nachricht. Ich habe Tag für Tag auf ihn gewartet, aber er kam nicht mehr. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen hatte, dass er aus meinem Leben verschwunden war. Ich war wieder ganz allein. Doch dann wusste ich, dass ich ein Baby erwartete. Sein Kind. Zuerst erschrak ich darüber und hatte schreckliche Angst vor meinen Eltern. Aber dann freute ich mich sogar ein bisschen darauf. Meine Stiefmutter schlug mir vor, meinem Vater zunächst nichts zu sagen. Sie meinte, dass er sich leichter damit abfinden würde, wenn der Enkel erst da sein würde. Deshalb war ich auch damit einverstanden, das Kind in Wien zur Welt zu bringen. Meine Stiefmutter hat dort eine Menge Bekannte. Sie brachte mich zu einer Hebamme, die mit ihr befreundet ist.« Sissi keuchte. Nicht gern erinnerte sie sich an diese beschämende Zeit voller Lügen und Heimlichkeiten. Es hatte ihr wehgetan, den geliebten Vater hintergehen zu müssen. Doch der Einfluss und die Angst vor der Stiefmutter waren stärker gewesen als alle Bedenken.
»Und Sie haben nie mehr etwas von Frank gehört?«, erkundigte sich Denise vorsichtig.
»Ich habe immer gehofft, dass er mir schreiben würde. Aber ich bekam keinen einzigen Brief. Nicht eine Zeile.« Sissis zarter Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
»Wusste er von dem Baby?«
»Nein. Er hätte mich niemals im Stich gelassen, das weiß ich. Es muss etwas passiert sein. Aber ich konnte nichts tun, um es herauszufinden. Meine Stiefmama hat mir verboten, mich darum zu kümmern, und sie hat auch immer scharf aufgepasst, dass ich keine Möglichkeit dazu hatte. Sie hat mich zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Keinen Schritt durfte ich ohne ihre Begleitung tun.«
»Konnten Sie sich denn nicht Ihrem Vater anvertrauen?«, fragte Denise behutsam.
Sissi schüttelte den Kopf. »Ihm gegenüber spielt sie seit Jahren die besorgte Mutter. Und er ist froh darüber. Er hat so viel mit seinen Geschäften zu tun, dass er von privaten Sorgen nichts hören will. Er war richtig froh, als ihm meine Stiefmutter sagte, dass ich Erholung bräuchte und dass sie mit mir für einige Wochen nach Österreich fahren würde.«
»Sie brachten ihr Kind also in Wien zur Welt?« Denise setzte sich neben Sissi auf die Biedermeiercouch und legte mütterlich den Arm um die zitternde Gestalt.
»Es war in der Wohnung der Hebamme. Es ging alles gut. Aber dann wurde ich plötzlich ohnmächtig. Als ich wieder erwachte, fragte ich sofort nach meinem Kind. Ich hörte es nicht schreien und sah es auch nicht. Ich hatte schreckliche Angst. Und dann …, dann sagte mir die Hebamme, dass es tot zur Welt gekommen sei und dass sie es habe wegbringen lassen. Es hat aber noch gelebt, Frau von Schoenecker. Ich habe doch gespürt, dass es sich bewegte.« Schluchzend brachte Sissi diese Worte hervor. Sie weinte jetzt hemmungslos.
Denise streichelte ergriffen die Schultern des unglücklichen Mädchens. »Hat man Ihnen ein Medikament gegeben, bevor Sie ohnmächtig wurden?«, erkundigte sie sich leise.
»Eine Spritze«, brachte Sissi mühsam hervor. »Die Hebamme sagte, dass dies die Wehen unterstütze. Ich habe es ihr geglaubt. Ich wusste ja nicht, was man vorhatte.« Sissis Hände verkrampften sich ineinander.
»Sie glauben, dass alles geplant war?«
Laut sog das Mädchen die Luft ein.
»Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin fest überzeugt davon. Das Baby hat nicht in die Pläne meiner Stiefmutter gepasst. Deshalb sollte es verschwinden. Sie will nämlich, dass ich ihren Neffen Heiko heirate. Wahrscheinlich, um über ihn eines Tages an das gesamte Erbe heranzukommen. Sie ist nämlich wesentlich jünger als mein Vater.« Elisabeth konnte nicht verhindern, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen.
»Und Sie glauben, dass Tim Ihr Baby ist?«
Sissi schnellte hoch. Ihr Körper straffte sich. »Ich weiß es«, sagte sie laut und deutlich. »Tim hat große Ähnlichkeit mit Frank. Die Geschichte mit dem Findelkind vom Attersee hat meine Stiefmutter nur erfunden. Sicher hat sie geglaubt, dass ich die Wahrheit nie herausfinden würde. Wahrscheinlich hätte sie mit dieser Vermutung auch recht gehabt, wenn Nick nicht gewesen wäre. Er hat mich nach Sophienlust eingeladen, und als ich Tim zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass das mein Kind ist.« Sissi war jetzt ruhiger geworden. Das, was sie sagte, klang überzeugend.
»Aber Sie haben Ihr Baby nie gesehen?« Denise dachte daran, dass es nicht einfach sein würde, dieser jungen Mutter zu ihrem Recht zu verhelfen. Vielleicht wäre es sogar unmöglich gewesen, wenn Frau Langenburg nicht einen Fehler gemacht hätte. Sie hatte die Behörden in Seewalchen am Attersee von ihrem Fund nicht unterrichtet, wie sie in Sophienlust behauptet hatte. Doch würde dies ein ausreichender Beweis sein?
»Nein. Aber als Mutter fühlt man so etwas. Sie sind doch selbst Mutter, Frau von Schoenecker. Sie müssen das doch bestätigen können.« Hilfe suchend sah Sissi die jugendliche Frau an ihrer Seite an.
Denise nickte begütigend. »Ich glaube Ihnen. Und ich will Ihnen auch helfen. Zunächst werde ich mit Ihrer Stiefmutter sprechen. Ich werde versuchen, sie umzustimmen.«
»Das wäre der einfachste Weg. Aber ich glaube nicht, dass Sie etwas erreichen werden. Sie ist so hart, so unbarmherzig.« Jetzt weinte Sissi wieder.
»Unser