Der Moment der Stille. Julia Thurm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Thurm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783861969952
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wie möglich bekommt.

      Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich ein Gemälde, das es sich unterhalb der Mappe gemütlich gemacht hat. Von dem Moment an, als der Pinsel die Leinwand traf, war es anders. Nicht besser oder schlechter, es stand für sich. Langsam hebe ich es hoch und berühre es sacht. An manchen Stellen kann man die angetrocknete Farbe besonders gut spüren. Es hat eine interessante Wirkung auf mich. Ein Gefühl, das ich nicht erklären kann. Falls es dafür ein Wort gibt, hoffe ich bald, Bekanntschaft mit ihm zu machen. Meine Augen schließen sich. Meine Mundwinkel werden breiter. Irgendwann werde ich wissen, wieso ich dieses Bild gemalt habe und wieso es mich so empfinden lässt. Vorsichtig lege ich es zurück. Man sollte sich nicht mit anderen vergleichen, – mich mit mir selbst allerdings schon.

      Das allererste Bild, das ich vor einem Jahr anfertigte. Als ich dies hochnehme, wird deutlich, in welchem Zustand ich mich damals befand. Hier wurde mit viel dunkleren Tönen gearbeitet, etwas abstrakt und nur bei genauerem Entgegensehen kann man erkennen, dass ich den Albtraum malte, in dem ich in einem Meer aus Blut ertrinke. Am Rand viele schwarze Schatten und ein Mädchen.

      In den Kunststunden war es immer so, dass wir im Anschluss alle zusammen in einem Kreis saßen und jeder sagte etwas zu seinem Gemälde. Besonders auf meine Kunstwerke waren immer alle gespannt. Das lag, glaube ich heute, weniger an meinem Verständnis für die Malerei als vielmehr an der Tatsache, dass ich auch dort die eine war und mein Hang zur Übertreibung deutlich wurde. Ich lasse diese Albtraumverursacher wieder zurück in die Mappe verschwinden und lege diese auf meinen bereits zur Hälfte gepackten Koffer. Noch einen Augenblick lang verharren meine Augen auf den Berg der Leistungen, die ich nach zwölf Monaten mit nach Hause nehme.

      Die Furcht, dass mein Leben da draußen mich wieder zu der Person machen könnte, die ich nicht mehr sein will, ist groß. Doch ebenso gewaltig ist die Freude, die ich empfinde, wenn ich an Christin, Dina, Joe und Glen denke.

      Ein letztes Mal will ich mir die Turnschuhe anziehen und mich in den Park begeben. Während ich die Schnürsenkel des linken Schuhs langsam zur Schleife forme, verspüre ich das Verlangen, das frisch gemähte Gras zwischen meinen Zehen zu spüren. Ein letztes Mal, bevor sich der Sommer endgültig verabschiedet.

      Ich gehe nach draußen. Weich fühlt sich das Grün an. Beinahe jeder Halm ist spürbar. Die Erde trägt noch die Wärme der Sonne in sich und gibt mir ein angenehmes und geborgenes Gefühl. Ich bleibe vor der alten Parkbank stehen, auf der ich Tag für Tag meine Verbindung nach Hause suchte. Es hört sich wohl verrückt an, aber der Ort hier wird mir fehlen. Ein letztes Mal platziere ich mich auf dieser Sitzmöglichkeit. Auch Drake und Rachel scheinen etwas frische Luft zu brauchen und setzen sich neben mich. Wie zwei alte Freunde, die ich nach all der Zeit im Park wiederfinde. Als würden sie mir die Sicht auf den kleinen See wenigstens heute nicht ruinieren wollen. Nach einer Ewigkeit darf ich die Sonne – ein letztes Mal an diesem Ort – untergehen sehen. Majestätisch sieht sie in ihrem flammenden Rot aus und doch wirkt sie melancholisch wie nie. Nur Minuten später ist sie weg – mit der Sonne geht auch die Wärme, aber niemals das Licht. Denn der Mond und die Sterne sind immer da, wenn es dunkel ist. Ich spüre den frischen Wind an den Füßen, die beginnende Gänsehaut. Also beschließe ich, aufzustehen und ein letztes Mal abseits des Weges zu gehen. In ein Zimmer, in dem ich zum letzten Mal die Augen schließen werde. Denn morgen ist der Moment gekommen, der mein Leben erneut verändern wird ...

      *

      Das neue Leben

      Das letzte Stück, das in meinem Koffer fehlt, ist das Gruppenfoto, welches man mir zum Abschied damals mitgegeben hatte. Der schlichte Goldrahmen, der nur an den Ecken verschnörkelt ist, trägt bereits eine dicke Staubschicht. Mit meiner Hand versuche ich, so viel wie möglich von diesem Dreckfilm zu entfernen. Ganz gelingen will mir das nicht. Beim Betrachten des Fotos wird mir bewusst, wie sehr mir alle fehlen. Diese Menschen sind schließlich meine Familie. So sehr ich mich auf das Wiedersehen freue, so sehr trage ich auch Furcht in mir, wie alles seinen Lauf nehmen wird. Nicht nur die Angst, dass ich wieder zur depressiv traumatisierten Person dahinvegetiere, sondern auch die Frage, was ist, wenn ich nicht mehr zu ihnen passe? 365 Tage lang starrte ich in eingefrorene Gesichter und trotzdem gab dieses Foto mir so viel Halt. Dieses Stück Papier war meine Heimat, da ich keinen Kontakt – weder mit meiner Schwester noch mit sonst wem – haben durfte, um mich auf mich selbst konzertieren zu können. Was ist, wenn ein Jahr ausgereicht hat, um mich so zu verändern, dass mein Puzzleteil nicht mehr in das Gesamtbild passt? Was ist, wenn ich mit meiner Umwelt zurechtkomme, doch diese nicht mit mir? Es gibt keine Fragen, die mir mehr Gänsehaut bereiten als diese. Dennoch werde ich die Antworten nur herausfinden, wenn ich es versuche. Mit den immer wiederkehrenden Fragen in meinem Kopf packe ich das Foto ganz oben auf den Kleidungs- und Kunstberg. Dann schließe ich den Reißverschluss, der fast ganz um den Koffer geht. Ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Knie wäre er nicht so leicht zu schließen gewesen. Nun ist er zu.

      Diese Reise wäre geschafft, ein Hügel von vielen folgenden überwunden. Mit dem Zuriegeln des Koffers packe ich nicht nur neue Erfahrungen ein, sondern auch alte Begleiter, von denen ich dachte, ihre Fesseln innerhalb eines Jahres abstreifen zu können. So einfach ist das nicht. Drake und Rachel nehme ich ebenso wieder mit nach Hause wie das Schuldgefühl. Eines Tages fällt der Apfel. Das war die Hoffnung, die man mir mit auf den Weg gegeben hatte.

      Bevor ich die Türe hinter mir schließe, wandert mein Blick noch einmal durch das Zimmer. Ich lächle und doch merke ich, wie sich ein kleiner Teich in den Augen sammelt. Dieses Zimmer gab und nahm mir vieles. Vor allem Schlaf. Dann schließe ich das Tor, atme tief ein und rolle ein letztes Mal mit meinem Koffer durch die Flure. Meine Nase nimmt jedes Mal die furchtbaren Gerüche wahr, egal wie oft ich sie schon gerochen habe. Etwas, das ich nicht vermissen werde. Ich klopfe am Zimmer des Chefprofessors, der mit heute meine Entlassungspapiere ausstellen wird. Eigentlich werden diese von einer Betreuerin oder den zuständigen Psychologen überreicht. Ich scheine wohl auch für ihn ein spezieller Fall zu sein, dem er die Papiere wohl lieber persönlich aushändigt.

      „Guten Morgen, Miss Smith. Setzten Sie sich doch bitte“, begrüßt er mich freundlich, strahlend und mit ruhiger Stimme.

      „Guten Morgen, Professor Franklin“, erwidere ich ebenfalls freundlich.

      „Wie fühlen Sie sich?“, fragt er zuversichtlich, während wir uns an seinem prunkvollen Schreibtisch platzieren.

      „Gut, gut. Danke“, antworte ich etwas zögernd.

      „Sie haben Angst, nicht wahr? Lassen Sie mich Ihnen eines sagen. Die Angst ist nicht unser Feind. Angst ist versteckter Mut, der sich nicht traut, herauszuspringen. Also sein Sie mutig. Ich habe selten so eine starke junge Frau wie Sie getroffen. Ich bin mir sicher, auch Sie werden Ihre Stärke bald erkennen“, gestikuliert er wild vor sich hin.

      Professor Franklin ist mit Sicherheit nicht mehr der Jüngste, was er mit seinen Augen nicht mehr sehen kann, macht er mit seinen Weisheiten wohl wieder gut. Das Einzige, dass ich auf seinen Vortrag reflektieren kann, ist ein respektvolles Nicken. Geduldig entfaltet er die Entlassungspapiere, um seine Unterschrift darunter zu setzen. Mit etwas zittriger Hand nimmt er den Deckel des Füllers ab und fängt an, kritzlige Linien zu produzieren. Danach faltet er die Papiere dreimal, steckt sie in einen weißen Umschlag und überreicht sie mir. Gebannt starre ich auf den Brief. Professor Franklin schmunzelt und nickt. Ich schau ihm in die Augen, ein tiefes, von Herzen kommendes: „Danke“, ist alles, was ich herausbekomme.

      „Danken Sie nicht mir, Miss Smith. Danken Sie sich selbst“, sagt er, während er aufsteht und mich zu Türe hinausbegleitet. „Und vergessen Sie nicht, hin und wieder mal das Blatt zu wenden, Miss Smith“, nickt er.

      In der Unverständlichkeit dieses Satzes werfe ich Professor Franklin einen fragenden Blick zu. Als ich gerade etwas dazu sagen will, reicht er mir seine Hand und verabschiedet sich in aller Förmlichkeit – so wie es Professor Franklins Art nun mal ist – und schließt die Tür hinter mir.

      „Okay?“, flüstere ich leise für mich. Ich nehme meinen Rollkoffer, den ich vor der Türe geparkt hat, und rolle damit weiter den