Der Moment der Stille. Julia Thurm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Thurm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783861969952
Скачать книгу
wage es ein weiteres Mal und lasse das Baumwolltuch langsam von meinem Gesicht gleiten. Durch meine Augen sehe ich meine erschöpfte Seele. Ich lehne mich auf den Rand des Beckens. Ein Anblick, der mir Angst macht. Doch ich sehe nicht nur mich im Spiegel. Mein Verstand, er spielt mit mir, jedoch nach seinen eigenen Regeln. Meine Gegner ist mein Verstand. Er ist clever und erscheint in Gestalt von Rachel und Drake. Beide erblicke ich im Hintergrund meines Spiegelbildes. Sie haben Ausdauer mitgebracht. Sie kommen wie Ebbe und Flut. Ihre Augen bohren sich ein Loch in mein Herz mit dem Wissen, dass es mich in den Wahnsinn treiben wird.

      Ich zucke zusammen und machen einen großen Schritt weg von mir selbst. In Windeseile drehe ich mich um, dort stehen sie. Meine Hände zittern, der Atem stockt. Die beiden wirken so real und doch weiß ich, sie sind eine Illusion. Meine Dämonen, sie erscheinen mir immer, wenn ich schwach bin, wenn der Schmerz und der Selbsthass am größten sind. Ich wende meinen Blick wieder in die Richtung des Spiegels. Sie sind weg, schnell wie ein scheues Reh. Ich atme auf und gehe zurück zur Wasserquelle. Es passiert immer wieder, ohne Vorwarnung. Ich soll mich davon nicht leiten lassen, mich nicht reinsteigern, sagt mein Therapeut. Er kann das leicht von sich geben. Schließlich verfolgen ihn keine toten Menschen.

      Nachdem ich meine Zähne vom nächtlichen Staub befreit habe, bürste ich mir die Haare. Heute sind besonders viele Knoten darin. Andere in meinem Alter haben diese zerzausten Haare von heißen Liebesabenteuern und sind so was von stolz darauf. Ich dagegen wünsche mir, einmal einen Morgen zu erleben, an dem ich nicht merke, dass meine Seele bei Nacht keine Ruhe findet.

      Als meine Mähne gebändigt ist, ziehe ich mein übergroßes, weinrotes Schlafshirt aus, meinen fliederfarbenen BH und die dazu passende Unterhose an. Derzeit das Einzige, das ich unter Kontrolle hatte. Den passenden Büstenhalter zu dem dazugehörigen Unterteil zu tragen. Dies kann ich damit von der Checkliste abhaken. Darauf bekleide ich mich mit einem rosa gefärbten Kapuzenpullover und einer verwaschenen Jogginghose. Am Ende des Ärmels bleibe ich jedes Mal mit meiner rechten Hand hängen, da alle Patienten in meiner Abteilung ein orangefarbenes Plastikarmband tragen müssen. Als hätte man ein Fünfsternehotel gebucht. Während ich mit meinen unpassend grünen Socken in die Badeschlappen steige, schließt eine Betreuerin meine Türe auf. Um Punkt halb acht, jeden Morgen.

      Seit ich einmal das nächtliche Bedürfnis besaß, einen Ausflug nach draußen zu machen, fanden sie es wohl besser, meine Türe bei Anbruch der Dunkelheit verschlossen zu halten. Da verstehen die hier leider keinen Spaß.

      „Guten Morgen, Katie.“

      Ein schwerfälliges: „Morgen“, ist alles, was aus mir rauskommt. Wie ich diese kahlen und weißen Flure hasse. Jeden Tag denke ich, ein wenig Farbe an den Wänden wäre nicht schlecht. Man würde sich nicht ganz wie in einem Irrenhaus fühlen. Allein der Geruch, der in den drei Gebäuden das Chanel Parfüm ersetzt. Eine Mischung aus Medikamentenabhängigkeit, Desinfektionsmittel und Pfefferminztee. Dies lädt nicht gerade zum Frühstücken ein, da man gleichzeitig schauen muss, dass das Abendessen nicht wieder den Rückweg antritt bei diesem stechenden Duft.

      Als ich im Essensbereich ankomme, sind die meisten anderen Patienten bereits auf den Beinen. Die meisten hier könnten meine Eltern sein oder sogar noch eine Generation darüber. Sie grüßen mich wie jeden Morgen, die einen freundlich, die anderen noch so betäubt von der Nacht wie ich. In der Cafeteria hole ich mir eine heiße Schokolade, sie erinnert mich an zu Hause. Bei jedem Schluck der süßen Milch denke ich an Christin und an Spike, den ich leider nicht retten konnte. Ich denke an so vieles.

      An einen leeren Tisch, ziemlich weit in der Ecke des Raumes, setze ich mich auf einen der orangefarbenen Plastikstühle und schaue mir die Leute an. Dieser Essenssaal ist für die Personen der Psychotraumatologie. Jeder Bereich hat auch hier seine Farbe. Wenn mir jemand mit einem grünen Armband begegnet, weiß ich, er kommt aus dem psychosomatischen Bereich. Einen Menschen mit einem lila Armband werde ich wohl nie sehen. Das ist die geschlossene Abteilung. Arme Seelen, die den Verstand verloren haben, weil sie ihrem Land helfen wollten.

      Ich befinde mich in einer militärischen Psychiatrie, die meisten hier sind früher einmal Soldaten gewesen – in Afghanistan oder dem Irak. Was diese Menschen an Leid gesehen oder selbst verursacht haben, wage ich mir nicht auszumalen. Man sieht es in ihren Gesichtern, bleich und leer. Sie hatten den Tod vor Augen, mehrere Male erlebt. Andere – wie ich – haben Verwandte oder Freunde beim Militär und die Chance bekommen, hier behandelt zu werden. Alle Menschen hier haben etwas erlebt, das sie nicht mehr loslässt, sie verfolgt, so wie mich. Schicksale, die das Leben schrieb. Ein Spiel, in dem nicht jeder ein As hatte oder den Joker zog.

      Ich nehme einen weiteren Schluck aus meiner Tasse. In meinen Erinnerungen sehe ich Spike, wie er am Boden liegt und winselt. Ein weiterer Schluck. Klar und deutlich sehe ich die Drohung, die an meine Zimmerwand gesprüht war. Während dieses Szenarios vor meinem inneren Auge erscheint, setzt sich ein Mann, ich schätze ihn auf Mitte vierzig, diagonal an meinen Tisch. Er sieht ungepflegt aus, seine Haare stehen in jede erdenkliche Richtung ab. Seine Augen sind feuerrot. Die Falten in seinen Mundwinkeln zeigen: Er hat einiges wortlos ertragen. Mit zittriger Hand fängt er an, sein Müsli zu essen. Dann blickt er in meine Richtung, während ich einen großzügigen Schluck der flüssigen Schokolade in meinen Rachen gieße. Ich spüre seine starren Augen. Ich erwidere den Blick nicht.

      „Du bist doch die eine, oder?“, fängt er an, mit rauer Müslistimme zu sprechen.

      Ich schweige.

      „Sollst so einiges erlebt haben“, nickt er nachdenklich.

      Ich blicke in seine Richtung. „Ich glaube nicht, dass hier jemand ist, der nicht viel erlebt hat“, antworte ich ihm, stehe auf, stelle meine leere Tasse auf einen der Geschirrwagen und verlasse die Cafeteria. Lange halte ich es hier sowieso nie aus.

      Jeder hier kennt mich als die eine. Die eine mit dem angeblich besonders schweren Schicksal. „Du Arme und du bist noch so jung.“ Wie oft habe ich diesen Satz in den letzten sechs Monaten von anderen Patienten gehört. Ich hasse ihn. Diese schockierten Blicke, als wäre man ein Unmensch. Mitleid braucht der Mensch nicht. Das gibt ihm nur das Gefühl, dass das Loch, in das er sich vergräbt, noch nicht tief genug ist. Es selbst nicht noch tiefer zu machen, ist schon schwer genug. Jeder Tag ist wie ein neuer Boxkampf – als Geschenk gibt es ein neues blaues Auge. Ich bin in dieses Leben hineingeboren worden. Nichts davon habe ich mir ausgesucht oder gewünscht. Ich will weder bemitleidet noch dafür bewundert werden. Ich will einfach sein, einfach leben. Doch einfach ist leider schwer.

      Mein Wochenplan ist vollgepackt mit Einzeltherapie, Gruppentherapie und Kunsttherapie. Jeden Tag dasselbe Schema. Struktur, nennen die Therapeuten das. Ich sage dazu nur: „Und täglich grüßt das Murmeltier.“ Ich gehe zurück in meine Zelle, so wie ich diesen Raum bezeichne. Dort ziehe ich mir meine schwarzen Turnschuhe an. Wie fast jeden Morgen spaziere ich eine Runde durch den Klinikpark. Ich freue mich darauf, die letzten zwei Tage hatte es geregnet und ich musste drinnen bleiben.

      Heute ist ein sonniger Frühlingsmorgen. Der Duft der noch feuchten Wiese und den darauf wachsenden Blumen steigt einem sofort in die Nase. Ich bin gerne hier. Hier habe ich das Gefühl, wieder mehr Mensch als Krankheit zu sein. Meine Augen sind empfindlicher gegenüber dem Sonnenlicht geworden, deshalb blendet es mich zu Anfang immer. An dieser Stelle macht sich auch meistens der Schwindel bemerkbar. Eine der unzähligen Nebenwirkung des Narkotikums und der Antidepressiva.

      Sobald sich mein Sehnerv an die wärmenden Strahlen gewöhnt hat, laufe ich immer zum Teich, der das Herzstück in der Mitte des Parks ist. Ich lausche jedem einzelnen Schritt, den ich abseits des Weges über das Gras mache. Den geraden Weg gehen, war noch nie so mein Ding. Am Teich setze ich mich auf die etwas ältere, rostende Bank, die unter einem Kirschbaum steht. Ein Ritual, das mir wohl von früher geblieben ist, als ich, auch nach dem Tod meiner Eltern, immer wieder in den Park, zur exakt selben Parkbank gegangen bin. Die Vögel zwitschern, es ist verrückt, als wäre man für ein paar Minuten in einer anderen Welt. Die Sonne spiegelt das tiefblaue Wasser wider. Ich sehe eine Entenfamilie, die gerade darüber gleitet. Der erfrischende Wind weht durch meine Haare. Die wachsenden Blätter rascheln. Ich schließe meine Augen, lehne mich zurück und stelle mir vor, Christin würde neben mir sitzen