»Du bist nicht träge, großer Claus?«
»Früher war ich es auch, doch allmählich habe ich eingesehen, dass es gut ist, wenn man viel lernt.«
»Weißt du, großer Claus, wir bekommen ein kleines Mädchen ins Forsthaus – das kleine Mädchen ist noch nie in einem Walde gewesen. Du musst recht oft kommen, dann kannst du auch mit dem kleinen Mädchen im Walde spazieren gehen. – Wann kommst du denn wieder?«
»Nun sind auch bald für dich Ferien, ich werde mich dann öfters im Forsthause sehen lasten, dann laufen wir zusammen durch den Wald.«
»Ach ja, das wird aber schön sein! Dann gehen wir auch zum Schmanzbauern und dem Schiff.«
»Und auch mal zur Oberförsterei.«
Pucki überlegte. »Ja«, sagte sie schließlich, »zur Oberförsterei gehen wir auch, weil der Onkel Oberförster der Frau mit dem bösen Fuß Holz schenkt.«
»Auch meine Mutter hat dich sehr gern, Pucki.«
»Ja, großer Claus, ich komme mal hin. Du musst mich holen, dann gehen wir immerzu durch den Wald.«
»Wirst du nicht lieber mit den Niepelschen Knaben spazieren gehen?«
»Nein, mit dir gehe ich am liebsten. Du gefällst mir.« –
Endlich war es in der Schule so weit, dass Fräulein Caspari den Kindern sagen konnte: Heute ist der letzte Schultag.
Pucki freute sich aufrichtig darüber. Obwohl sie in der Schule ganz aufmerksam war und auch gern hinging, fand sie es doch noch viel schöner, den ganzen Tag über daheim bleiben zu können. Vor allem erfreute sie die Aussicht, mit dem großen Claus im Walde umhergehen zu dürfen. Er konnte so schön erzählen, sprach von kranken Bäumen und zeigte ihr hier und da eine Beule, die ein Baum hatte. Auch die Vöglein wusste er mit Namen zu nennen, und die Stimmen vieler Vögel konnte er gut nachahmen. Claus sprach aber auch von der Stadt, in der er lebte und lernte. Alles wurde von Pucki mit dem größten Interesse aufgenommen. –
Als Pucki am heutigen Tage mit den beiden Niepelschen Knaben heimfuhr, trieb Paul vor Freude allerlei Unfug. Der Kutscher musste den übermütigen Knaben oftmals zurechtweisen, um ihn zur Ruhe zu bringen.
»Den Ranzen schmeiße ich in die Ecke, dort mag er während der Ferien liegen bleiben. Ich hab's satt! – Fünf Wochen brauche ich nichts zu lernen!«
»Wirst schon zu Ostern sitzenbleiben«, sagte der Kutscher.
»Wenn du den lieben Gott recht schön bittest, lässt er dich nicht sitzenbleiben.«
»Er wird schon sitzenbleiben«, sagte Fritz. »Der liebe Gott hört nicht immer auf das, was man gerne haben möchte.«
»Doch! Der liebe Gott hört immer darauf.«
Fritz schüttelte den Kopf.
»Morgen kommt das kleine Mädel aus der Stadt, na, die werde ich ärgern!«
»Nein, Paul, das darfst du nicht, das ist ein Mädchen, das noch keinen Wald gesehen hat und ganz arm ist und ohne Freude im Herzen. Du kannst die anderen ärgern, aber nicht das kleine Mädchen. Ich darf es auch nicht.«
»Ich mach's aber doch!«
Der Kutscher erhob die Peitsche und drohte dem Paul. »Dein Vater wird schon aufpassen. Morgen hole ich die Kinder ab.« – –
Der erste Juli kam heran. Pucki war voller Erwartung. Sie dachte es sich wunderschön, mit dem großen Claus und dem Stadtmädchen in den Wald zu laufen. Frau Sandler, die anfangs ihren Schützling hatte abholen wollen, war im letzten Augenblick verhindert. Es genügte aber auch, wenn Frau Niepel nach Rahnsburg fuhr und Pucki mitnahm. Vor dem Forsthause würde der Wagen halten, und Pucki und das Ferienkind absetzen.
Pünktlich traf der Wagen ein: Pucki stieg ein, dann ging es nach Rahnsburg zum Bahnhofe.
Sehr artig und brav spazierte das Försterkind neben Frau Niepel auf dem Bahnsteig auf und ab. Endlich fuhr der Zug fauchend und dampfend in die Halle.
»Werden wir das Mädchen auch finden, Tante Niepel?«
Es stiegen anfangs nur wenige Reisende aus, dann aber sah man aus einem Wagen ein junges Mädchen herausspringen. Es trug eine weiße Haube.
Ein Kind nach dem anderen stieg aus, und bald umstanden zwanzig kleine Mädchen die Führerin, die suchend umherblickte.
»Schau, Pucki«, sagte Frau Niepel, »eines von diesen zwanzig Kindern wird es sein. Ein kleines Mädchen für dich, ein anderes für mich. Wir wollen fragen.«
Das junge Mädchen mit dem weißen Häubchen gab die gewünschte Auskunft. Es bringe herzliche Grüße von der Volkswohlfahrt; sie sei Frau Sandler sehr dankbar, dass sie gleich zwanzig Kinder aufnehmen wolle.
»Zwanzig Kinder?«
»Jawohl, ich bringe den Transport nach Rahnsburg. Hier sind die Kleinen. Sie haben wohl die Güte, gemeinsam mit mir die weitere Unterbringung zu übernehmen.«
»Zwanzig Kinder?«
»Frau Sandler schrieb, dass sie zwanzig Mädchen haben möchte, die zum Teil auf das Gut, zum Teil ins Forsthaus kommen sollten.«
Frau Niepel stand ratlos da. Bisher hatte Frau Sandler immer nur von zwei Kindern gesprochen. Was sollte man mit den vielen Kindern beginnen? Oder hatte Frau Sandler sich im letzten Augenblick noch in Rahnsburg und den umliegenden Forsthäusern bemüht, die Kleinen unterzubringen, wie das von der Organisation anfänglich gewünscht worden war?
»Es ist wohl das beste, die Kleinen marschieren nach dem Forsthause Birkenhain. Es ist nicht weit, kaum eine Viertelstunde. Frau Sandler soll dann selbst die Anordnungen treffen, denn ich bin nicht im Bilde.«
»Tante Niepel, kriegen wir nu alle die Kinder?«
»Nein, Pucki.«
»Ich habe den Brief bei mir«, sagte die Führerin. »Wenn Sie sich überzeugen wollen, dass zwanzig Kinder gewünscht wurden –«
Die Gutsbesitzerin nahm den Brief, den Frau Sandler geschrieben hatte. – Richtig, hier stand, und zwar dick unterstrichen, dass zwei Mädchen gewünscht wurden. Doch hinter der deutlichen Zwei sah man eine mit Bleistift gemalte Null, so dass kein Zweifel bestand, dass zwanzig Kinder erwartet wurden.
»Es ist das beste, wir machen uns auf den Weg, liebes Fräulein. Die Kleinen sind gewiss nicht böse, wenn sie nach dem langen Sitzen im Abteil ein Stück durch unseren schönen Wald laufen dürfen. Im Forsthause wird sich alles klären.«
»Tante Niepel, ich glaube, die vielen Kinder kommen nu doch alle zu uns! Ach, wo sollen die denn schlafen? Ach, wird das ein Ulk werden!«
Pucki ahnte nicht, dass sie schuld war an diesem Irrtum. Sie hatte geglaubt, dass sie der Großmutter ein Küsschen schicke und hatte den Kuss auf den falschen Briefbogen gemalt, hatte die Null unmittelbar hinter die »2« geschrieben, ohne zu wissen, was daraus entstand.
Frau Niepel ließ den Wagen mit den kleinen Koffern der Kinder hinterherfahren. Sie ging neben der Begleiterin. Pucki dagegen beäugte die kleinen Mädchen. Keines gefiel ihr so recht, die Kinder sahen recht blass aus und hatten trübe Augen. Endlich tippte sie ein schmächtig aussehendes Mädchen mit dem Fingerchen an und sagte:
»Trinkst du gern Milch? Du kannst auch immer meinen Milchreis haben; dir schenke ich ihn gern.«
Doch die Angeredete hatte nicht den Mut, auf diese Frage zu antworten. Die kleine Schar war überhaupt sehr schweigsam.
Frau Sandler stand wartend an der Gartenpforte und blickte mit Staunen den Näherkommenden entgegen. – Was wollten die vielen fremden Kinder hier? Diese blassen, dürftig ernährten Großstadtmädchen, die wohl zu den Ärmsten der Armen gehörten?
»Hier bringe ich Ihnen zwanzig Kinder, Frau Sandler«, rief Frau Niepel