Man wird nie genau wissen, wie viele Schutzsuchende die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zurückgewiesen hat. Viele Akten aus der Kriegszeit sind vernichtet worden, manche Abgewiesene wurden gar nicht registriert. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg spricht in ihrem 2002 veröffentlichten Schlussbericht für die Kriegsjahre von »über 20’000« an der Grenze Abgewiesenen. Dazu kommen 14’500 auf Konsulaten und Botschaften abgelehnte Einreisegesuche. Über Geschlecht, Fluchtgründe, Alter und Religion dieser Menschen ist nichts bekannt. 295’381 Menschen seien in der Schweiz in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden, schrieb Carl Ludwig 1957 in seinem im Auftrag des Bundesrats verfassten Bericht Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Davon befanden sich zu Kriegsende rund 115’000 in der Schweiz. Die Zahlen sind irreführend, hat Ludwig doch einfach verschiedene Kategorien von Flüchtlingen zusammengezählt. So figurieren darunter auch rund 60’000 Kinder, die für mehrwöchige Erholungsaufenthalte in der Schweiz weilten, und 66’000 Grenzflüchtlinge, die zu Kriegsende meist nur wenige Tage Schutz gesucht hatten, um den letzten Kämpfen zu entgehen. Aussagekräftiger ist die von der Bergier-Kommission ermittelte Zahl von 51’129 zivilen Flüchtlingen, die ohne Einreisebewilligung während des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden. Unter ihnen waren über 10’000 Kinder. Zählt man noch die knapp 8000 mehrheitlich jüdischen Emigranten dazu, die vor Kriegsausbruch in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten, und weitere 2000, die kantonale Toleranzbewilligungen erhalten hatten, so dürften es laut Bergier-Kommission rund 60’000 Menschen gewesen sein. Knapp die Hälfte waren Juden.
Inge Joseph beginnt im Juli 1945 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie möchte Hebamme werden, helfen, Leben zu schenken, anstatt es zu beenden. Im Mai 1946 reist sie in die Vereinigten Staaten aus, wohin ihr Vater und ihre Schwester schon vor dem Krieg emigriert sind. Ihre Mutter ist in Auschwitz ermordet worden, ihre Großmutter verbringt ihre letzten Jahre in einem Lausanner Altersheim. Die Schweiz behält sie als familiäres und herzliches Land in Erinnerung. Doch ihre traumatische Jugend wird sie nie mehr loslassen. Was damals geschah, darüber spricht sie kaum. Ende der 1950er Jahre schreibt sie ein 66-seitiges Manuskript mit den Erinnerungen an ihre Jahre als verfolgte jüdische Jugendliche in Europa. Das unfertige Manuskript verschwindet, nachdem verschiedene Verlage es zurückgewiesen haben, in einer Schublade. 1983 nimmt sie sich im Alter von 58 Jahren das Leben. In ihren letzten Jahren hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen, auch ihre Angehörigen hatten sie nicht mehr erreicht. Als ihr Neffe David Gumpert ihre Erinnerungen liest, beschließt er, sie posthum fertigzustellen. Er recherchiert, trifft ihre überlebenden Leidensgenossen und auch die noch lebenden Schweizer Helferinnen und Helfer. Das Buch erscheint 21 Jahre nach Inge Josephs Tod. Eine deutsche Übersetzung steht aus.
Naara Appel
»Ich habe mit meinem Großvater geweint«
»Ich vermisse meinen verstorbenen Großvater, er war mir in seinen letzten Jahren sehr nahe, nicht mehr nur der liebevolle Paschlö, der uns Enkelkinder in seinem Sommerhaus mit seinem Akkordeon in den Schlaf wiegte, sondern Klaus Appel, ein sehr selbstbestimmter Mann, der fast seine ganze Familie in der Shoa verlor. Ich bin dem jüdischen Glauben stärker verbunden, als er es war, der sein Judentum als Dienst an der jüdischen Gemeinschaft verstand, und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es einen Gott oder einen Himmel gibt, so ist der Gedanke doch tröstlich, er möge seine Familie wieder gefunden haben, die er mit 14 Jahren, am 31. August 1939, verlassen musste, um als eines der letzten Kinder nach England gerettet zu werden. Nur Stunden später begann der Zweite Weltkrieg. Mein Großvater wusste, dass er sie nicht wiedersehen würde. Von da an war er weitgehend auf sich allein gestellt.
Ich war ein Teenager, als ich mich zu fragen begann, wie er mit einer solchen Kindheit in ein normales Leben gefunden hatte. Ich, wohlbehütet und im Wohlstand lebend, er, der mit einer solch traumatischen Erfahrung überleben musste. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, alle wussten in der Familie, was geschehen war, und er sprach bereitwillig darüber, wenn er gefragt wurde, nicht nur im Familienkreis, sondern auch in der Öffentlichkeit. Und doch umgab ihn immer etwas Rätselhaftes. Es gab etwas, das er nicht mit uns teilen mochte oder konnte.
Was es war, wurde mir erst später bewusst, als ich meinen Großvater im Rahmen meiner Maturaarbeit befragte. Mein Thema war Resilienz, die Fähigkeit des Menschen, eine traumatische Erfahrung zu überwinden. Ich war in einem Artikel darauf gestoßen, ohne dabei an meinen Großvater zu denken. Erst nach und nach, in Gesprächen mit meinen Eltern und meiner Tante, entwickelte sich die Idee, dieser Frage am Beispiel von Überlebenden der Kindertransporte nach England nachzugehen. 10’000 Kinder wurden nach der ›Reichskristallnacht‹ vom 9. November 1938 bis zum Kriegsausbruch aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien gerettet, unter ihnen mein Großvater.
Ich hatte einen Fragenkatalog vorbereitet, und mein Großvater stand mir Rede und Antwort. Er schilderte genau, was geschehen war, doch immer dann, wenn es mir darum ging, etwas über seine Gefühle zu erfahren, da verstummte er, oder er wich aus in Details, ohne dabei zu verraten, wie er sich gefühlt haben mochte, als er in letzter Minute sein geliebtes Akkordeon, seinen ersten wirklichen Besitz, in den Händen seines Bruders zurücklassen musste, weil nur ein Gepäckstück auf dem Transport erlaubt war. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis er sich wieder eines gekauft hat. Aus der Resilienzforschung ist dieses Schweigen über die Gefühle bekannt. Es ist der Schutzmantel, den manche Traumatisierte tragen, tragen müssen, um in ein normales Leben zu finden.
Die jüngere Schwester meines Großvaters, die die Kriegsjahre auch in England überlebt hat, brach alle Brücken zu ihrer Vergangenheit ab. Sie kehrte im Gegensatz zu ihrem Bruder, der regelmäßig in seiner Geburtsstadt Berlin weilte und mir auch die Stätten seiner Kindheit gezeigt hat, nie mehr nach Deutschland zurück, sie legte ihren jüdischen Glauben ab, und sie blieb kinderlos. Gerne hätte ich von ihr erfahren, was sie dazu bewegt hat. Doch ihr Schweigen bricht sie nicht. Mein Großvater sprach dann doch noch über seine Gefühle. Je älter er werde, desto mehr bedrücke ihn das Trauma seiner Kindheit. Er wache jeden Morgen mit Gedanken an seine Familie auf, erzählte er mir unter Tränen. Die Forscherin in mir wusste auch dafür eine Erklärung. Ein Trauma lässt sich niemals überwinden. Resilienz heißt nur, einen Weg zu finden, damit zu leben. Klaus Appel, dieser gute Mensch, der in seinem Leben immer für andere da war und dabei auch sich selbst etwas aus dem Weg ging, fand in seinen letzten Jahren, als die Kräfte nachließen, wieder näher zu sich, im Guten und im Schlechten. Doch das ist die Sprache der Wissenschaft. Die Enkelin, sie hat mit ihrem Großvater geweint.«
Naara Appel, Jahrgang 1998, lebt im Kanton Genf.
Klaus Appel, der aus England kommend in den frühen 1950er Jahren zu seiner Frau in die Schweiz übergesiedelt war, starb am 13. April 2017, einen Monat vor seinem 92. Geburtstag. Aus seinem Leben berichtet er in seinem Buch Eines Morgens waren sie alle weg!, das im Rahmen der Reihe » Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden« 2016 erschienen ist. Das Buch wurde von Schülerinnen und