Nach Israel sei er gegangen, »weil ich ein Staatsbürger sein wollte. Mit allen bürgerlichen Rechten und in Freiheit. Diese Rechte gewährte mir der Staat Israel.« Das hatte seinen Preis. Es galt über Jahre ein »Gebot des Schweigens«. Der Aufbau des Staates sei wichtig gewesen, nicht die Vergangenheitsbewältigung. »Und manchmal sahen wir Überlebenden uns dem Vorwurf ausgesetzt, wir hätten uns nicht gewehrt. Wie hätte ich das tun sollen? Ich war auf dreißig Kilo abgemagert.« Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann habe ein großes Umdenken bewirkt. Ein Schüler will wissen, ob es im Lager Freizeit gab. Graber antwortet kurz angebunden. »Nein. Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger.«
Ob er seine Jugend nachgeholt habe, möchte ein Schüler wissen. »Nein. Das war gar nicht möglich. Ich hatte nur sechs Jahre eine Schule besucht und musste später alles nachholen. Für anderes gab es gar keine Zeit. Ich hatte ein Ziel: ein normales Leben zu führen.« Er habe keine Jugend gehabt, und darum erzähle er der heutigen Jugend davon. »Die Jugend ist die Zukunft, und ich mag die jungen Leute. Ich wünsche mir, dass ihr es weiter erzählt.«
Ob man sich bei ihm entschuldigt habe, wird Graber gefragt. Seine Antwort ist unmissverständlich. »Offiziell nie, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der mich zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen hatte, entschuldigte sich nicht. Eine junge Frau bat mich um Entschuldigung. Ich wies sie zurecht. Sie habe damit nichts zu tun.«
Shlomo Graber hat die Shoa und die Zwangsarbeit als Jugendlicher überlebt. In seinem Buch Der Junge, der nicht hassen wollte legt er ein erschütterndes Zeugnis ab. Er lebt in Basel.
Ivan Lefkovits
»Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«
Gut und gern einen Regalmeter füllen die wissenschaftlichen Publikationen des Immunologen Ivan Lefkovits. Es ist sein Lebenswerk. Der ruhige, sich stets etwas zurückhaltend gebende Mann teilt sein Büro am Basler Institut für Immunologie seit Jahrzehnten mit einem Kollegen. Die beiden haben sich versprochen, dass jener, der zurückbleibt, die Bleistiftskizze des anderen an die Wand des kleinen Büros in der Basler Altstadt hängen wird. Dort reihen sich die anderen Fachkollegen, die den »unvermeidlichen Weg« schon gegangen sind.
In einem schmalen, 2016 erschienen Bändchen erzählt der 80-jährige aus seinem anderen Leben. Es trägt den Titel Bergen-Belsen. Vollendet – unvollendet und ist Teil der 15 Lebensgeschichten umfassenden Reihe »Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden«. Levkovits hat sie herausgegeben. »Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht.« Ein Zürcher Kollege schrieb ihm eine E-Mail, nachdem er in einer internen Zeitschrift der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH davon gelesen hatte. »Ich wollte kein Mitleid, gerade in beruflichen Dingen nicht. Meine Leistungen sollten zählen. Und sonst nichts.« Und so schwieg Ivan Lefkovits über die schrecklichen Jahre als Kind mit seiner Mutter im Konzentrationslager, so wie er auch als Jugendlicher verstummte, wenn er in die Augen einer Freundin seiner Mutter sah, deren ganze Familie, auch ihr Sohn, der so alt war wie Ivan, in der Gaskammer ermordet worden war. »Sie war immer höflich, aber es schien mir, dass sie meinen Anblick nicht ertrug. Sie sah ihren Sohn in mir. Und so sprachen wir nie darüber, was geschehen war.« Die Kerzen an den Geburtstagen des Bruders, der ermordet worden war, und am Tag der Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen brannten den ganzen Tag. »Diesen Tag beging meine Mutter noch während Jahren zwei Tage später, am 17. April, als wir nach elf Tagen erstmals wieder Wasser tranken und etwas aßen.« Das Unaussprechliche blieb auch bei dieser Gelegenheit ungesagt. Heute werde er bei Schulvorträgen gefragt, was schlimmer gewesen sei, der Hunger oder der Durst. »Das gehört eigentlich in den Biologieunterricht, aber solche Fragen zeigen mir, dass es unmöglich ist, zu begreifen, was damals geschah. Es geht mir, der ich dieses Grauen erlebt und überlebt habe, eigentlich nicht anders. Doch das darf nicht bedeuten, darüber zu schweigen.«
Ivan Lefkovits machte eine feine akademische Karriere. Er begann sie in der kommunistischen Tschechoslowakei und setzte sie später praktisch nahtlos fort, als er 1967 dem Land aus politischen Gründen für immer den Rücken kehrte. Er sei stets ein scharfer Kritiker des Sozialismus gewesen und habe mit dieser Meinung auch nie hinter dem Berg gehalten. Doch über die Shoa, von der er sein erschütterndes Zeugnis hätte ablegen können, schwieg er während Jahrzehnten. Sein glühender Antikommunismus habe es ihm leichter gemacht, den Mantel des Schweigens über die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland zu legen. Er habe nie Rachegelüste gehabt. Auf der Rückfahrt aus dem Konzentrationslager durch das kriegszerstörte Deutschland in seine Heimat sei ihm bewusst geworden, dass die Gewalt auf deren Urheber zurückgeschlagen habe. Damit sollte es nun genug sein.
Bis sein 16-jähriger Sohn die Familie wachrüttelte: Das war 1978, als der US-amerikanische Vierteiler Holocaust auch im europäischen Fernsehen gezeigt wurde. Wie konnte es sein, dass ihr euch nicht gewehrt habt, euch einfach habt abschlachten lassen, habe sein Sohn die Großmutter gefragt. Da brach als erste Ivan Lefkovits’ Mutter ihr Schweigen. Sie schrieb in hohem Alter ihr Leben auf. Ihr Sohn sollte es ihr Jahre später gleichtun. Doch anders als seine Mutter, die wesentlich genauere Erinnerungen hatte als er, der sie als Siebenjähriger ins Konzentrationslager begleiten musste, widmete und widmet sich Lefkovits vielmehr dem Gedenken und der Frage nach Sühne, nach Schuld und nach Verantwortung. In Heidelberg brach eine Zuhörerin in Tränen aus, als er als Zeitzeuge auf einem Podium über das Konzentrationslager erzählte. Die Frau berichtete, sie habe in den Unterlagen ihres verstorbenen Großvaters gelesen, den sie als warmen, liebevollen Menschen sehr verehrt habe. Doch er sei als Wächter im KZ Bergen-Belsen tätig gewesen. Deshalb sei sie gekommen. Sie habe die Stimme eines Überlebenden hören wollen. Lefkovits sagte zu ihr, sie trage keinerlei persönliche Schuld, aber es sei gut, wenn sie sich mit den Opfern identifiziere. Sie solle ihren Weg gehen und die Geschichte ihres Großvaters loslassen. Andere bäten ihn um Verzeihung. »Ich verzeihe diesen Menschen dann, ihnen zuliebe. Aber es gibt nichts zu verzeihen. Sie sind unschuldig.« Schuld trügen vielmehr die Nationen, die an diesen Verbrechen beteiligt gewesen seien, namentlich die deutsche, aber auch all jene, die kollaboriert hätten. »Daraus erwächst eine historische Verantwortung, die leider nur Deutschland wahrnimmt.« Würde Ivan Lefkovits dem Großvater der Frau verzeihen, die als Enkelin mit Schuldgefühlen kämpft? »Das kann ich nicht sagen. Es hinge vom Grad seiner Schuld ab. Nach der Befreiung gab es in Bergen-Belsen einen sehr fair geführten Prozess. Es gab Todesurteile, Gefängnisstrafen und Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Dieses Gericht hat bestraft, aber es hat keine Rache geübt.«
Ivan Lefkovits, Jahrgang 1937, lebt in Basel.
Monika Gyr
»Ein Kreis hat sich geschlossen«
»Es war um das Jahresende des Jahres 1946. Unser voll besetzter Zug war nach langer Fahrt in Basel eingetroffen. Wir waren alle Kinder aus Berlin, von Rotkreuz-Helferinnen abgeholt, um ein halbes Jahr in der Schweiz bei einer Gastfamilie zu verbringen. Kaum waren wir ausgestiegen, mussten wir uns nackt ausziehen und wurden in einen Duschraum geführt. Wir sollten uns waschen. Danach wurden wir genau unter die Lupe genommen, ob wir die gefürchtete Krätze hätten. Die Helferinnen achteten dabei sehr darauf, dass unsere Namensschilder nicht verwechselt wurden. Wie ich, das sechsjährige Mädchen, nach St. Gallen gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass mein Gastvater Ernst Fick mir sehr sympathisch war, während seine Frau Erika mir etwas Angst einjagte. Doch das legte sich.
Die Zeit verging wie im Flug, ich hatte kaum Heimweh, schon bei der Abreise in Berlin war ich voller Vorfreude gewesen. Ich lebte bei meiner Großmutter in einem hübschen