Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joseph Zoderer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939314
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und sehr viel.

      An gewöhnlichen Tagen jedoch sei Vater oft müde und dann ein ganz anderer gewesen. Schon wenn Geringfügiges am Gewohnten gefehlt habe, sei er außer sich geraten. Nun ja, er habe Gemüse geliebt, habe Knoblauch sogar am liebsten zehenweise in den Mund geschoben, gekaut und geschluckt, besonders gerne habe er coste gegessen, weißgrünes Rippenmangold, in Wasser mit Knoblauch gesotten. Wehe aber, sagte Mara, es war einmal nicht richtig gesalzen oder nicht mit dem richtigen kleinen Maß Olivenöl angemacht, da konnte er jäh explodieren: Er kippte den Teller, schüttete alles auf den Boden, auf den Teppich des Speisezimmers. Ähnlich sei es mit seinem Pfeifenbesteck gewesen (dafür sei sie zuständig gewesen, nicht Carmine, betonte Mara fast noch mit Stolz), wenn diese läppische Nettapipa einmal nirgends zu finden gewesen sei, da habe Papà augenblicklich die Nerven verloren. Und dann sei dieses Zeug doch immer wieder unter seinen Papieren im Studiozimmer gelegen. Aber wir wussten ja auch, sagte Mara, dass es weder die zu wenig gesalzenen Mangoldstängel noch die verlegten Pfeifenbürsten waren, sondern irgendetwas uns Unbekanntes, das der Vater am liebsten auf den Teppich hingeschüttet hätte, um darauf herumzutrampeln. Anderseits, gab Mara zu bedenken, hielt Vater uns Kindern keine Predigten, dafür war Mama zuständig, aber er kümmerte sich sehr um unsere Ausbildung, hielt sich auf dem Laufenden, wie es in der Schule ging. Uns erzählte Mutter, dass sie im Krieg, als Vater unter anderem auch für die Ausspeisung in den Schulen zuständig war, immer mit den wenigen zugeteilten Lebensmittelkarten habe auskommen müssen; oft sei zu Hause keine Butter mehr gewesen, trotzdem habe Papà, der viele Lebensmittellager zu verwalten hatte, nie ein Stück mitgenommen und der Familie gebracht.

      Er war auch nicht außerordentlich eitel, meinte Mara, allerdings legte er Wert darauf, gut gekleidet zu sein, er ging zum Schneider, weil er klein und dick war, und er kaufte auch den Stoff jeweils selbst. Und so wie er nur maßgeschneiderte Anzüge trug, ließ er sich die Schuhe von einem Schuster in Bruneck anfertigen, er freute sich über Solides. Leider, sagte Mara, rauchte mein Vater sehr viel, sie habe ihn oft in der Früh husten gehört, sei beinahe regelmäßig gegen fünf aufgewacht, weil er draußen auf dem Wohnungsflur gehustet habe, ein tiefes, röchelndes Husten.

      Maras Vater kam aus Agrigent in dieses deutschsprachige, seltsame Bergland Südtirol, das die Faschisten (wie schon Napoleon) Alto Adige nannten – Oberetschland. Dieses österreichische Alpengebiet sollte nach Mussolinis Willen schnell italianisiert werden, möglichst von heute auf morgen. Maras Vater kam als Vizefederale, war Centurione (bei Kriegsende General), verantwortlich für die Jugend, die oberste Autorität für Erzieher, vor allem für Turnlehrer, er war für nichts weniger als für die Faschisisierung der Kinder und Jugendlichen zuständig: Die Italianisierung der Südtiroler Zukunft hatte er zu erledigen. Wenn er erfolgreich sein wollte, musste ihm die Verwandlung von (verschiedenartigen) tirolischen Dialekt sprechenden Berg- und Talkindern in italienisch parlierende Faschisten glücken.

      Caetano de Pasqua war als Halbwaise herangewachsen, eine von sechs Halbwaisen, die sein Vater zurückgelassen hatte, als er achtundvierzigjährig an Nierenversagen starb. Keine arme Familie, in der Maras Vater mit zwei Schwestern und drei Brüdern groß wurde. Sein Vater hatte das Kapitänspatent der Handelsschifffahrt erworben, war auch Mitbegründer einer Bank und schließlich Direktor an dem hochangesehenen Istituto Tecnico seiner Heimatstadt. Nein, keine arme Familie.

      Maras Vater trug, als er nach Bozen kam, den damals so bewunderten Streifen, der die Rom-Marschierer ehrenvoll kennzeichnete, auf dem Ärmel seiner imposanten schwarzen Uniformjacke. Er war einer der jüngsten faschistischen Gauleiter, mit vierundzwanzig Jahren hatte er bereits als Federale in seiner Geburtsstadt Agrigento Befehlsgewalt. Auf einem Foto, das Mara nach seinem Tod von der Mutter gezeigt bekam, sah sie einen kleinen, gertenschlanken jungen Mann, der vor einer auf zwanzigtausend Köpfe geschätzten Menschenmenge sprach, in der Stadt, in der er nur wenige Jahre zuvor noch in die Oberschule gegangen war.

      Dass Maras Vater auch Natalies Großvater war – dieser Gedanke hatte Jul nie beschäftigt. Als Natalie geboren wurde, ein Kilo sechzig leicht, war Fasching, eigentlich noch Winter, aber über den Talferwiesen strahlte ein blitzblauer Vorfrühlingshimmel. Ein Engerling war sie, eine überdimensionale Schmetterlingspuppe in einem Terrarium ohne Erde, aber aus Glas. Jul konnte mit hautdünnen Gummihandschuhen durch zwei runde Löcher in den Brutkasten hineingreifen und Natalie berühren.

      Dass auch Maras Vater sie hätte berühren dürfen, und sei’s mit Gummihandschuhen wie er, das war Jul über all die Jahre nie in den Sinn gekommen. Erst recht nicht damals in Rom (wie hätte es anders auch sein können), als Mara und er auf umgestürzten, im Gras liegenden Säulensegmenten des Forum Romanum hockten, im Blick großflächige Akanthusblätter, das warme Märzblau des südlichen Himmels und den Vesta-Tempel, und dann doch wieder weiterlasen in dem Buch über die Arbeitskämpfe in den Turiner Fiatwerken. Mara hatte kurzes, aber dichtes, dunkelbraunes Haar, das sie gerne hinter das linke oder rechte Ohr strich, sie war fast knabenhaft schlank. Wenn sie sich berührten, machten sie es wie Verschwörer, als könnten sie damit jemandem einen Streich spielen.

      Wann immer Mara nun an Wochenenden nach Bozen kam, fuhren sie in die Wälder um den Montiggler See, wanderten auf den Traktorwegen der Weinäcker, saßen auf nachmittäglich heißen Gasthofterrassen unter Weinlauben. Sie kauten Speck und Käse, tranken Kalterer oder Magdalener oder Lagreindunkel. Er redete mit Mara italienisch, weil sie für ihn eine Italienerin war. Auch wenn sein Italienisch wohl hölzern klang, mit deutschem Akzent. Aber er liebte Maras italienisches Reden wie eine Geheimsprache, die ihre gemeinsame Nähe nach außen absicherte.

      Was ihn verwunderte und irgendwann auch ärgerte, war, dass ihre deutsche Südtiroler Mutter auch italienisch mit ihr sprach, nicht viel weniger hölzern als er und ebenso mit diesem deutschen (Crucco-)Akzent. Denn Mara konnte Deutsch sprechen, lesen und schreiben, ihr sizilianischer Vater hatte sie als einzige seiner Kinder in eine deutsche Volksschule geschickt. Trotzdem redeten ihre Mutter und auch Jul italienisch mit Mara – die Mutter vielleicht aus einer Art Treue zu ihrem Mann, während Jul glaubte, dass Maras Gedanken und Gefühlswelt durch und durch italienisch sein müssten, möglicherweise, weil er sie zuerst nur Italienisch reden gehört und überhaupt unter Italienern kennengelernt hatte. Tatsächlich war Maras Deutsch anfangs vielfach ein italienisches Deutsch. Sie übersetzte spontan italienische Denkweise zu wörtlich ins Deutsche und beging auch entsprechende kleine grammatikalische Sünden, von denen sie einige nie endgültig ausmerzen sollte. Aber für Jul waren diese Sprachabweichungen oder Redeeigenheiten (Mara sagte zum Beispiel, wenn sie vom Ehemann einer Frau sprach, statt ihr Mann immer wieder einmal sein Mann) von einem besonderen, fast exotischen Reiz, sofern sie überhaupt deutsch miteinander sprachen, was in der ersten Zeit selten geschah, und wenn, war es wie Ballspielen, auch eine Art Liebesspiel oder der wechselseitige Versuch, hinter die Grenze des anderen zu gelangen, einzudringen in das Andere, in das abenteuerliche Unbekannte. Er liebte an Mara die Fremde oder überhaupt das Fremde.

      Und so wanderten sie, Italienisch sprechend, auch durch ihren ersten Mai, der kühl war zu Füßen des Skiberges und windig, aber für Stunden, wenn die Sonne durchbrach, öffneten sich die Löwenzahnblüten, und die leicht geneigten oder welligen Wiesen verwandelten sich in wogendes Gelb. Es war schön, aufwärts dem Waldgrün entgegenzugehen, dann den Bach zu überqueren, auf die kugeligen, weißgrauen Steine hinunterzuschauen, im Ohr das Aufglucksen, Aufsprudeln des abwärtsdrängenden Bergwassers, und irgendwann abzubiegen, an friedlich geduckten Häusern vorbei, zwischen Stadel, Stall, Misthaufen und dem Wohngebäude eines Gehöfts hindurch, schließlich ins unbewohnte Freie der Wiesen, streckenweise noch an grau verwitterten Lattenzäunen entlang, erdig und in der Mitte mit Grasnarben besetzt die Wege, manchmal durchschnitten vom mageren Lauf eines Wiesenbächleins, Holunderbüsche erst im Ergrünen. Für Jul ein Wandern durch die Gerüche seiner Kinderwünsche, die er in einem anderen Dialekt gedacht, geträumt oder auch ausgesprochen hatte, jetzt versuchte er sie zu übersetzen, sie Mara auf Italienisch nahezubringen, so wie sie ihm die Baumgruppen oder auch einen einzelnen Baum zeigte: am Waldrand die dickstämmige Lärche, unter deren zum Teil blankliegenden Wurzeln sie Höhlenhäuser, Rindenhäuser, Grashäuser gebaut und eingerichtet hatte. Möglicherweise war es hier oder doch in dieser Zeit, dass sie plötzlich deutsche