Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joseph Zoderer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939314
Скачать книгу
nur für zwanzig, später aber immerhin für vierzig Pfadfinder Verantwortung getragen habe – trotzdem.

      Es war ein heller Morgen, ein blauer Südhimmeltag, als er Zia Delia mit dem Taxi abholte zum Friedhof über dem Tal der Tempel. Die Leute standen auf den Trottoirs herum, zwischen den Palmen im Park, im Schatten der Magnolien, vor den Fischgeschäften, in den Bars; die Autos rollten Stoßstange an Stoßstange ohne irgendein Gehupe. Er führte Zia Delia am Arm, bemerkte erst jetzt, dass sie gar nicht so eine hochgereckte Riesin war, sondern ihm eben noch bis über die Schulter reichte, und einen leicht geneigten Nacken hatte sie auch. Das Taxi ließen sie vor dem großen Tor der Totenstadt warten. Zwanzig Minuten etwa, sagte Delia zu dem Fahrer, der ihr mit auffälligem Respekt aus dem Auto geholfen hatte. Einen bunten Strauß in der linken Hand, spazierte Jul mit Delia am rechten Arm langsam in die Nekropole hinein, tatsächlich eine Stadt mit Straßenfluchten und beidseitig aufragenden kleinen Totenhäusern. Flachgräber sah er nur wenige, auf jeden Fall nicht in dem Teil, durch den Zia Delia ihn dirigierte. Kuppelhäupter von Pinien, in denen ein feiner Meereswind wedelte. Und da sah er, noch bevor Delia ihn darauf hinweisen konnte, aus einem Augenwinkel Maras Familiennamen in großen schwarzen Buchstaben auf einem der größten Grabhäuser prangen. Ein etwa sieben Meter hohes und fünf Meter breites Mausoleum, die Stirnwand mit grauweißen Marmorplatten bedeckt, und zwei marmorne Stufen zur drei Meter hohen vergitterten Glastür. Zia Delia sperrte das Schloss auf, Glas hinter schwarzen Metallstangen, und Jul trat in einen Kapellenraum mit Altartisch, zwei dreiarmigen Kerzenständern und einem Kruzifix. Darüber ließ ein Glasfenster, auf dessen blauem Grund weiße grünblättrige Blumen gemalt waren, blässlich gefiltertes Licht herein. Acht braune Kaffeehausstühle luden vor dem Marmoraltärchen zum geruhsamen Meditieren ein. Er setzte sich neben Delia und las die Namen auf den Marmorplatten an der linken Wand, hinter der Maras sizilianische Toten lagen. Zehn Kammern zählte er, sechs davon schon belegt: die Eltern ihres Vaters und vier von deren Kindern. Maras Vater lag nicht hier, er lag in Bozen auf dem St. Jakobsfriedhof unter der Smoghaube der Industriezone, aber beschützt von den so hohen Tiroler Bergen. Als Zia Delia das Familienmausoleum wieder schloss – das Taxi wartet, sagte sie –, ging Jul noch die wenigen Meter zum Ende dieser Totenstraße und hatte den weiten blauen Horizont im Blick, das Meer, über das die Kartharger gekommen waren und die Griechen und die Araber, er sprang auf die niedere Mauerbrüstung und sah unter sich das Tal der Tempel, schüttere Mandelbaumwäldchen, Olivenhaine, und dahinter den langgezogenen Sandstrand zwischen San Leone und Porto Empedocle. Das Licht, die rasende Helligkeit, machte ihm Herzklopfen, Lebenslust.

      Damals, als Maras Stimme aus der Telefonmuschel zu ihm drang (und dieser eine Satz, mit dem er alles erfuhr), hatte er sich wie weggerissen von ihr gewusst statt zu ihr hingerissen.

      Jul brachte die alte Frau nach Hause und flanierte dann über die sonnengrelle Via Gioeni hinunter zur Porta di Ponte, von dort schlenderte er zwischen Autos und dahintrödelnden Passanten gemächlich die Via Atenea hinauf. Bevor er aber in sein Hotelzimmer zurückkehrte, sah er kurz in die Bar „Arlecchino“ des Benito Peri hinein, obwohl er wusste, dass ihn dessen fensterlose, muffige Bude kaum weiter aufmuntern würde: staubige Flaschen und alte Keksschachteln und vor der Theke kein anderer Kunde. Der schlohweiße Barinhaber mit dem niedlichen Vornamen des einst (und von nicht wenigen noch heute) hochverehrten Duce Benito saß auf einem Stuhl (auf der anderen Seite des Gässchens, das kaum zwei Meter breit war) gegenüber der offen stehenden Bartür und erhob sich erst, als Jul bereits an der unbeleuchteten Theke stand. Vor sich hin summend ließ der rotwangige Benito eine Neonröhre aufflammen und fragte ihn dann in fast verschwörerischem Ton nach seinem Wunsch. Campari? Kein Problem, sogar mit limone, aber ohne Eis.

      Ein andermal würde Jul mit dem Alten auch ein paar Worte wechseln, nur heute nicht.

      Von einem deutschen Bahnhof aus hatte er – nein, er wusste es genau, es war in Passau gewesen, er hatte am Tag zuvor Studenten interviewt, ein Junge, gerade sechzehn, war aus einem Fenster gesprungen, auf den Platz vor der Nibelungenhalle, Kopf voraus und offenbar freiwillig –, Jul war am Morgen (ohne Frühstück) zu Fuß vom Hotel zum Bahnhof, wollte mit dem ersten Zug über München nach Hause, er hatte zwanzig Minuten bis zur Abfahrt, trank einen Kaffee, kaufte Zeitungen (las mit Wut und Verachtung Reagans neuesten Einsparungsplan im Sozialbereich bei gleichzeitig beschlossener Erhöhung der Rüstungsausgaben) und rief dann aus einer gelben Telefonkabine Mara an. Gestern Mittag hatte er noch Natalie im Ohr gehabt, sie war eben von der Schule heimgekommen –, jetzt war sie tot.

      Als Mara und Jul sich im Bett des Vaters liebten, waren die Wiesen rund um dieses Ferienhaus gelb von Löwenzahn. Sie redigierten Artikel für ein unregelmäßig erscheinendes, außerparlamentarisches Informationsblatt, entwarfen auch den sogenannten Spiegel – die Aufteilung der Artikel und überhaupt das Erscheinungsbild der Zeitung – und die Überschriften. Zwischendurch kochten sie, spazierten über die Feldwege, durchstreiften die nahen Waldstücke.

      Zum ersten Mal aber hatte er Mara ein Jahr zuvor – daran konnte sie sich später kaum noch erinnern – auf einem der eher seltenen gemeinsamen Ausflüge ihrer Gruppe angesprochen, einem Polentafest oben an einem der Berghänge, die die Stadt umlagern. Vierzig oder fünfzig deutsche und italienische compagni hockten oder lagen im Gras, tranken Wein, Bier und Obstsäfte aus Pappbechern; der eine und die andere kümmerten sich um das Holzfeuer, einige um die Würste und die Polenta. Jul sah, wie Mara sich über den Kessel beugte und mit einem langstieligen Löffel rührte, aber er weiß nicht mehr, ob sie da schon miteinander redeten, er fuhr sie jedenfalls in einem Kleinwagen, einem fünfhunderter oder sechshunderter Fiat, den er von einem compagno ausgeliehen hatte, die engen, steilen Kurven der Bergstraße hinab, sie wollte den Zug nehmen nach Mailand, allerdings musste er sie zum Haus ihrer Mutter bringen, nicht zum Bahnhof (ich merkte mir nicht die Hausnummer, eine italienische Häuserfront, nicht weit von der Innenstadt, fuhr weg, ich weiß nicht mehr, wohin, vielleicht wieder den Berg hinauf, zurück zum Polentafest, zum Kumpel, dem das Auto gehörte). Mara mag sich geängstigt haben während seiner halsbrecherischen Fahrt die Bergstraße hinunter, aber er hatte sich grandios gefühlt, er liebte das schnelle Fahren im Gebirge.

      Mara gestand ihm später, dass er ihr an diesem ersten Tag gar nicht sympathisch gewesen sei; ihr sei er irgendwie zu laut und zu direkt vorgekommen, nicht gerade prahlerisch, aber doch so ähnlich, und im Übrigen habe er sie nicht mit einem geliehenen Fiat eines compagno, sondern im Autobianchi 121 ihrer Mutter wie ein Verrückter die abschüssige, damals geländerlose und schwer überschaubare Bergstraße hinunter nach Hause gefahren, und vor der Haustüre habe er das Auto verlassen und sei zu Fuß irgendwohin weggegangen.

      Als Mara ihm dies mit lächelnder Sachlichkeit sagte, erinnerte er sich plötzlich selbst an eine andere Einzelheit dieses Polentafestes: Er hatte mit Mara abseits auf einem Wiesenstück gesessen oder auch gelegen, wie man irgendwo in der Sonne an einem Meeresstrand liegt, und hatte zu ihr von seinem interpunktionslosen, antiautoritären Text gesprochen, der eben erst in einer ausländischen Zeitschrift abgedruckt worden war, und er weiß nun wieder, wie enttäuscht er war, dass dieses Mädchen Mara sich dafür ganz und gar nicht interessierte.

      Sie verloren sich wieder aus den Augen, weil keiner den anderen gesucht hatte, ja, Jul wusste, dass Mara in einer Art Zeltgemeinschaft mit Freunden in Kalabrien unterwegs war, freilich wusste er nicht, dass der so sympathische, schweigsame compagno Luca immer neben ihr im Zelt lag, er, Jul, lebte seinen eigenen Sommer, und in den folgenden Herbst- und Wintermonaten sah er Mara hin und wieder an dem Versammlungsort in der Garage, er hörte den Reden zu, wahrscheinlich sah er auch immer wieder einmal Maras geweitete Augen oder ihm fiel ihr ernsthaftes Notieren auf, er sah auch die graukahlen Betonwände und die Hundertwattbirne über dem rechtwinkeligen Tischviereck. Irgendwo draußen, über ihren Köpfen oder seitlich davon, auf jeden Fall über ihnen, rumorte der Verkehrslärm, rumorte das Leben. Er musste täglich schon um fünf Uhr früh in der Radioredaktion sein, er ging seine eigenen Wege, wie im Übrigen auch sie.

      Erst im neuen Jahr, Mitte oder Ende Jänner, begann er plötzlich Mara zu suchen, das heißt, er wollte von einem Tag auf den anderen wissen, wo sie wohnte, wer ihre Familie war, wie er sie tagsüber einmal treffen könnte, er wollte mit ihr reden. Tatsächlich kannte