Wer bin ich im Gebetszustand? Es lassen sich unterschiedliche Gebetszustände wahrnehmen: sich öffnen, hören, sich aussprechen, in Fülle da sein, jammern … Was haben diese Zustände gemeinsam? Dass ich in Beziehung mit einer Wirklichkeit bin, die ich nicht sehe! Symbole, Bilder, Ikonen, Figuren, Räume, aber auch Schweigen, Körperhaltung und achtsames Atmen können Stützen für meine Sinne sein. Im Gebet bejahe ich mich als Wesen, das aus einer mich überschreitenden Beziehung lebt. Im Gebet lebe ich meine Tiefenwirklichkeit als Mensch: Ich bin Beziehung. Ich bin Beten. Ich realisiere im Beten mein Sein als Mensch und mein Sein als der konkrete „Hans“. Im Beten sage ich „Ja“ zu meinem Geworden-Sein aus der Entscheidung Gottes für mich gegen das Nichts und gegen das Nicht-Existieren dieses „Hans“.
„Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden …“ (Joh 1,12). Im Beten übe ich meine „Macht“ aus: Ich sage und spüre mit Jesus: „Abba“ (Papa). Sage ich es? Oder sagt es der Geist in mir? In meiner Seele und durch meine Sinne. – Ich bin Bruder Jesu. So habe ich die Voll-Macht, zu Jesus im Nächsten innerlich „Du“ zu sagen. Jesus ist das Geheimnis jedes und jeder Anderen: Jesus als Fremder und Bruder im Menschenbruder, in der Menschenschwester. Beten ist eine Form zu lieben – Gott und den Nächsten – und Lieben ist eine Form zu beten. Es gibt verschiedene Vollzüge des Betens: Beten kann heißen, in mir bei Gott zu sein – in Ihm „ruht meine Seele“ –, und kann heißen, in den Anderen bei Gott zu sein – im Paradies des Anderen.
Entfaltung des Betens im Laufe des Lebens
Im Beten geschieht Transformation, geschieht Wandlung. Im Beten aktualisiere ich mein Sein: Ich werde.
Beten ist mein Ausdruck der Liebe dem gegenüber, von dem her ich lebe. Liebe verbindet und lässt wachsen. Im Beten greife ich die Verbindung mit meinem Ursprung auf, bin ich wie ein Baby bei der Mutter, und lasse mich inspirieren, zu dem zu werden, was in mir zur Entfaltung drängt. Ich bin in Verbindung und bin im Wachstumsschub des Lebens. Im Beten verbindet sich mein Bewusstsein mit dem Unbewussten in mir: Ich bin wie ein denkender Embryo. Im Beten verwirkliche ich meine Existenz als ein auf meine Herkunft und Zukunft Bezogener. Außerhalb des Raumes und Rahmens des Betens bin ich nichtig, vegetiere ich im leeren Raum.
Das Beten entfaltet sich mit dem Reifen des geistlichen Lebens. In Stichworten:
Das suchende Beten entspricht dem Suchen des Menschen nach sich selbst, nach Gott, nach dem Sinn des Lebens: „Meine Seele sucht …“, ich halte Ausschau nach dem, was ich brauche, nach den Gaben des Lebens. – Das „Ja“-Gebet entspricht der Entscheidung für Gott und für Jesus. Maria, die Mutter Jesu, drückt es so aus: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast!“ Ich lasse die Brücken hinter mir zurück. Ich lasse weg, was nicht wichtig ist. – Das ringende Beten entspricht dem Ringen verschiedener Tendenzen in mir. Es geht darum, immer neu in die Spur Jesu zu finden, die Beziehung auszuprobieren, sich durchzufragen, sich einzuüben. – Das mystische Beten ist Ausdruck der Einigung mit Gott und Jesus: „Ich bin in dir, du bist in mir.“ Es bedeutet Kontemplation, mit Jesus sein, mit Ihm da sein. – Das tätige Beten bedeutet: mit Jesus arbeiten, die ergangene Sendung leben, mitten im Tun in Tuchfühlung bleiben mit Ihm.
Das spirituelle Panorama
Beten kann durch Gefühle begleitet werden, ist aber nicht Gefühl. Beten ist Begegnung. In der Begegnung rede ich nicht über Gott, vielmehr öffne ich mich ihm als Du. „Ich werdend spreche ich Du“ (Martin Buber). Und Er lässt mich Ich werden – heilend, erlösend!
Der Sozialpsychologe Lucas A. C. Derks spricht vom „sozialen Panorama“. Er ging der Frage nach, wie Menschen über Menschen denken, wie Menschen mental ihre sozialen Beziehungen repräsentieren, und kommt zum Ergebnis: in „Personifikationen“. Im Beitrag „Familiensysteme im sozialen Panorama“ (vgl. Derks L., Was ist das soziale Panorama?) gibt er die Anleitung, die Augen zu schließen und alle Menschen in der Welt um sich herum zu denken, dann sich auf einen bestimmten sozialen Kontext zu konzentrieren, z. B. die Familie, die Arbeit, um dann zu fragen: Wo? – links, rechts, oben, unten … In der Vorstellung „sieht“ man ein Beziehungspanorama, ein „soziales Panorama“.
Die Rede vom sozialen Panorama regte mich an, nicht nur nach meinem „sozialen“ Panorama, sondern auch nach meinem „spirituellen“ Panorama zu fragen. Meinen spirituellen Erfahrungsraum nehme ich täglich in der Meditation wahr: Ich sitze, bin ganz da in meinem Körper, der Atem fließt, der Bauch-Becken-Raum weitet sich mental bis ins Unendliche. In diesem „Großraum“ spüre ich eine Anwesenheit, eine Nähe, der ich vertraut bin und die ich mit „Jesus“ anspreche – eine „Personifikation“. „Jesus“ ist der, der bei mir ist und zugleich bei allen Menschen, die im Augenblick physisch zwar nicht zu sehen, dem Wissen nach aber gegenwärtig sind. In Jesus schließt sich der ganze Himmel auf und schließt sich die Erde auf mit allen Menschen. Der Himmel: Mit Jesus bin ich beim Vater, „im“ Vater, in seinem „Herzen“, beim „Abba“, dem Quell allen Sinns, aller Liebe und umfassenden Ordnung. Ich bin ganz zu Hause. Der Geist erfüllt den „Raum“. Der Geist ist wie die Luft, die Atmosphäre, der Hauch, der Sturm, der Wind, die Braut, zugleich wie der, der die Hochzeit organisiert, aber auch wie eine kraftvolle Frau und ein feinfühliger Mann. Und Maria ist wie der geisterfüllte „Raum“, in dem wir beim Vater und bei Jesus zu Hause sind. Das ist mein spiritueller Raum, mein Gebetsraum.
Dieser Gebetsraum durchdringt den konkreten sozialen Beziehungsraum, in dem ich Tag für Tag und Augenblick für Augenblick lebe. Der jeweilige „Nächste“ gerät in das Scheinwerferlicht meiner Aufmerksamkeit: wie wenn der Geist mich auf den „Nächsten“ aufmerksam machen würde. Spirituelles Panorama: Ich bin konkret hier und bleibe zugleich in meinem Gebetsraum. Ich bin auf Erden und zugleich im „Himmel“.
Räume des Gebetes
Die Erfahrung, wie intensiv ein Raum wirken kann, wurde mir das erste Mal als Jugendlicher geschenkt. An einem Pfingstmontag war ich beim Jahresausflug mit meiner Heimatpfarrei. Wir fuhren in zwei Bussen zur Wieskirche bei Steingaden. Einer der Busse hatte einen Schaden. Wir Jugendliche mussten warten. Ich ging nochmals in die Kirche. Die Abendsonne schien durch die Fenster. Ich habe heute noch den Eindruck eines leichten, leuchtenden Raumes in mir – wie wenn sich mir im Raum der Kirche ein weiterer Raum geöffnet hätte.
Es gibt Räume, in denen wir Beten geradezu ein- und ausatmen. Der begrenzte Raum verweist auf einen umfassenderen Raum. Beten kann sein wie Leben in zwei Räumen, dem handfest irdischen und dem Raum, der erfüllt ist von der verborgenen Anwesenheit Gottes. Es gibt so etwas wie Raumwechsel: vom Normalzustand in den Gebetszustand. Auch Raumüberlappungen gibt es: der Normalraum und der Gebetsraum werden zu einem Gesamtraum. Dies gilt nicht nur für den Kirchenraum, sondern auch für den Klangraum der Musik, den Beziehungsraum zwischen Menschen, den Schöpfungsraum, in dem wir leben, den „Raum“ des eigenen Körpers, in dem ich mich zum Beten sammeln kann.
Menschlich reifen in der Beziehung
zum ganz Anderen
Beim Beten verstehe und spüre ich mich wie in einem mentalen Raum, der unendlich ist. In diesem Gebetsraum befinde ich mich in Beziehung zu Jesus, zum Vater, zum Geist.
Die Beziehung zu Jesus ist eine Beziehung zu einem Freund. Auf ihn trifft zu: „Mein ganzes Glück bist du allein“ (vgl. Psalm 16,2). Ihm sage ich: Ich möchte dich so, so wie du bist! Sei du für mich der, der du bist! Ich finde dich als den, den die Evangelien mir zeigen und der mir im Hören und Lesen und Nachsinnen über das Gehörte und Gelesene gegenwärtig wird. Ich gebe mich ihm mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren. Ich lebe mit Ihm.
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