Leben mit dem ganz Anderen
Ergebnis: Vielfältige Erfahrungen und unterschiedliche Weisen von Beten stehen uns zur Verfügung. Beten ist in den verschiedensten Situationen möglich. Beten gehört zum Leben, zu einem Leben mit dem ganz Anderen. Worauf soll ich nun achten, wenn ich ein betender Mensch werden will? Woran kann ich mich orientieren, wenn ich mich in der Kunst des Betens üben möchte? Wohin kann ich schauen? Auf wen kann ich schauen? Auf den, der ständig mit Gott gelebt hat, auf den „Sohn“ des Vaters: auf Jesus!
ORIENTIERUNG AN JESUS
Jesus betet
„In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten“ (Mk 1,35). Nach der Speisung der Fünftausend „forderte er seine Jünger auf, ins Boot zu steigen und ans andere Ufer nach Betsaida vorauszufahren. Er selbst wollte inzwischen die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sich von ihnen verabschiedet hatte, ging er auf einen Berg, um zu beten“ (Mk 6,45f). Jesus geht vor einem Arbeitstag, an dem er viel mit Menschen zu tun hat, an einen einsamen Ort, um zu beten, und nach einem Arbeitstag, an dem er vielen Menschen begegnet ist, auf einen Berg, um zu beten. Jesus kennt den Rhythmus zwischen Arbeit und Gebet, zwischen Leben mit den Menschen und dem Alleinsein mit Gott. Vor der Berufung der Zwölf „ging er auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus; sie nannte er Apostel“ (Lk 6,12f). Jesus trifft wichtige Entscheidungen wie die Berufung der Apostel aus dem Gebet, aus der Verbindung mit dem Vater.
Gelebtes Beten
Der Evangelist Lukas formuliert im Zusammenhang mit der Taufe Jesu am Jordan: „Und während er betete, öffnete sich der Himmel“ (Lk 3,21). Beim Beten erfährt sich Jesus mit dem Himmel, das heißt mit seinem Vater verbunden. Im Gebet ist sich Jesus seiner selbst bewusst bzw. wird er sich seiner tiefer bewusst. „Er betete in der Einsamkeit“ (Lk 9,18), bevor er die Jünger fragt, für wen sie ihn halten, und ihm Petrus antwortet „für den Messias Gottes“. Die Verklärungserfahrung deutet der Evangelist Lukas als Gebetserfahrung: Jesus stieg mit Petrus, Johannes und Jakobus „auf einen Berg, um zu beten. Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes“ (Lk 9,28f). Im Gebet leuchtet auf, wer er ist. Jesus hört vom Erfolg der 72 Jünger. Und was tut er? „In dieser Stunde rief Jesus, vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freude aus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde …“ (Lk 10,21). Er betet. Im Gebet drückt er seine Freude aus. In der Stunde, da er den Seinen sein Vermächtnis hinterließ, nahm er das Brot und „sprach das Dankgebet“ (Lk 22,19). Das tiefste Geschehen kommt aus dem Beten. Man kann sagen: Jesu ganzes Tun und Sprechen kommt aus der Haltung des Gebets, aus seiner Beziehung zum Vater. Im Johannesevangelium ist es ausdrücklich gesagt: Jesus verkündet, was er „von Gott gehört“ (Joh 8,40) hat. Jesus ist im Vater und der Vater ist in ihm (vgl. Joh 10,38). Zu Philippus sagt Jesus: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Im Hochgebet seines Lebens (Joh 17) ist der Atem der Seele Jesu zu spüren. Im Beten ist Jesus beim Vater zu Hause. In der größten Not seines Lebens wendet sich Jesus an den Vater: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) und übergibt ihm sein Leben (vgl. Lk 23,46).
Jesus vollzieht sein Leben betend. Die jüdischen Gebetstexte, vor allem die Psalmen, waren auch seine Gebetstexte. Durch sein Leben, in seinem Sterben, hat er diese Gebete nicht nur ausgesprochen, sondern durchlebt. Jesus war in seinem „Pascha“ gelebtes Beten. Er betete nicht nur „In deine Hände befehle ich meinen Geist“, er hat dieses „Sich-Empfehlen“, diese Hingabe vollzogen, mit Geist, Seele und Leib. Er hat vollzogen, was er gesagt hat. Die Worte sind hörbar und als Psalmworte identifizierbar, aber sie sind Ausdruck des geistigen, seelischen und körperlichen Zustandes, in dem er sich gerade befindet.
Mit Jesus beten
Beten ist Zusammenleben mit Jesus im „Raum“ des Vaters und des Geistes. Jesus ist wie mein Freund und wie mein Bruder und wie mein Selbst. Aus der mystischen Sprache kennen wir die Metapher „Bräutigam (der Seele)“. Eine einzige Metapher kann die Beziehung nicht einfangen. Jesus sagte: „der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ und er fragte Simon Petrus „Liebst du mich?“ Um mit uns, mit mir zusammenleben zu können, hat er sich „ent-äußert“ (vgl. Phil 2,7), ist er „Nichts“ (vgl. „ad nihilum redactus sum“ Ps 73,22 Vulgata), zum „Wurm“ (vgl. Ps 22,7), „zur Sünde“ (vgl. 2 Kor 5,21) geworden und dabei ganz Er geblieben. So sagt er zu mir, wenn ich Bauchweh habe: Ich bin da! Und wenn ich etwas falsch mache: Ich hab’s auf mich genommen! Und wenn ich in meinem Leben eine Lücke spüre: Ich bin darin. Ich bin dein Lückenbüßer! Und wenn ich an die von Schmerzen gequälte Hanna denke: Ich bin bei ihr! Und wenn mich ein Mitbruder enttäuscht: Ich bin deine Enttäuschung!
Er ist verliebt in mich – und ich in Ihn! Wir tanzen miteinander das Leben. Wir „umarmen“ uns ununterbrochen. Wir sagen immer neu zueinander: Ich liebe dich! Und die Vielen tanzen mit! „Und wenn du es nicht glauben kannst“, sagt er, „dann denk daran, wie oft ich dir zur Speise geworden bin, wie oft ich dich genährt habe. Ich bin als Brot und Wein in deinen Körper gekommen, in den Raum, in dem du lebst. Der Raum deines Leibes ist erfüllt von meiner Gegenwart! Und deine Seele ist meine Wohnung, das heißt mein Himmel! Auch die Seele von Hanna und von … Und ich bin der Raum, in dem ihr miteinander lebt, die ihr euch in meinem Namen versammelt. Ich bin da. Ich bin mit euch. Rechnet immer mit mir! Ich bete mit euch und in euch.“ Mit Jesus leben und mit Jesus beten gehören zusammen.
DER BETENDE MENSCH
Verbunden und frei
Der Mensch spürt in sich zwei Grundimpulse: Sich-Entwickeln und In-Verbindung-Sein. Irena ist mit ihrem kleinen einjährigen Mischko bei mir. Während wir miteinander reden, krabbelt er umher, hält sich am Tisch fest und steht auf, schaut, was wir tun. Dann gleitet er wieder auf den Boden zurück und packt die Tasche aus, die Mama mitgebracht hat. Da sind Holzstöckchen drin, ein Buch mit vielen Bildern, Salzstangen. Da gibt es etwas anzupacken, etwas zu schauen und etwas, das man in den Mund stecken kann. Mischko entdeckt die Welt um sich herum, probiert sie aus, erobert sie. Dann tappt er wieder zu Mama. Er braucht die Gewissheit, dass Mama da ist, auch und gerade, wenn sie mit mir spricht. Diese umarmt Mischko, streichelt ihn. Man sieht es ihm an: Er genießt die Verbindung mit Mama. So sind wir – nicht nur Mischko: Wir brauchen Handlungsspielraum und Hautkontakt, Freiheit und Verbundenheit. So ist es auch bei Jesus: Er ist bei den Leuten, spricht, handelt, berührt sie – und sucht die Verbindung zum Vater.
„Die einzige Beziehungsform, in der beides, also die Verbundenheit und Freiheit, gleichzeitig erlebbar wird, ist die Liebe … Um ein Liebender, eine Liebende werden zu können, bedarf es einer Transformation. So schwer ist diese Transformation gar nicht, denn wir alle sind ja bereits mit der Erfahrung auf die Welt gekommen, dass es möglich ist, gleichzeitig aufs Engste mit einem anderen Menschen verbunden und doch jeden Tag ein Stück über sich hinausgewachsen zu sein“ (Hosang M./Hüther G., Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, 107). Der Mensch, der betet, lässt sich von Gott, der die Liebe ist und die Liebe der Menschen zueinander will, transformieren, verwandeln.
„Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch“ ist „als dialogisches Freiheitsverhältnis zu bestimmen, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe versucht, die Liebe