Die Katze und der General. Nino Haratischwili. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nino Haratischwili
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022648
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Glut zu verachten, ja, so fühlte sich diese Verachtung an, als würde man ihm heiße Lava in die Innereien gießen, und die er immer dann spürte, wenn sich seine Mutter in die längst vergangene und nicht mehr existierende Zeit zurückwünschte und nicht mehr mit der Realität Schritt hielt; die Realität, in der sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatlichen Forschungsinstitut für Virologie arbeitete, in der sie kaum noch Freunde hatte und in der es seit Jahren keinen Mann mehr gab. Sie zog sich immer mehr in sich zurück, und ihre frühere Zärtlichkeit wie auch ihre Sanftmut wichen unabwendbar der Verbitterung und Galligkeit. Zwar trat ihr übereifriger, ambitionierter, stets mit ihrem Mann konkurrierender, zweimal geschiedener, kinderloser älterer Bruder Leonid Nikolaewitsch wieder stärker in ihr Leben, mit dem sie vor ihrer Heirat eine merkwürdige, für alle befremdliche symbiotische Beziehung geführt hatte, in der er die Rollen von Vater, Mutter, Bruder und Kind in einem übernommen und darauf geachtet hatte, ihr möglichst viele Probleme vom Hals zu schaffen und sie vor allem finanziell zu unterstützen. Doch auch dies änderte nichts an ihrer unaufhaltsamen Verwandlung.

      Die enge Beziehung zu Leonid Nikolaewitsch hatte durch ihre Heirat ein jähes Ende gefunden; die Männer hatten sich gar nicht gut vertragen – beides Alphatiere, beides Angeber, beide karriereorientiert bis ins Mark und auf Anerkennung der Frauen aus. Leonid Nikolaewitsch hatte es sich auf der Beerdigung seines Schwagers nicht verkneifen können, nahezu frohlockend seiner Schwester zuzuflüstern: »Jetzt kann ich mich endlich wieder anständig um dich kümmern, Lydenka, ganz wie du es verdienst, ganz wie Mama und Papa das von mir erwarten würden, wären sie noch bei uns.«

      Leonid Nikolaewitsch arbeitete beim Goskom, dem Städtischen Komitee für Wohnungsbau, und seit neuestem war er in die Aufsichtskommission für die seit 1988 legalen und wie Pilze aus dem Boden schießenden Kooperativen berufen worden – was wiederum viele svjazy, Kontakte, und ziemliche Bestechungssummen garantierte, und somit auch seiner Mutter und ihm das Leben zumindest finanziell wesentlich erleichterte, denn Mutters Gehalt und die Kriegswitwenrente reichten seit der Perestroika nicht mehr zum Überleben. Die Schattenökonomie, die seit der Breschnew-Ära herrschte und in den achtziger Jahren zu ungekannter Größe aufgeblüht war, erforderte ganz anderes Geschick, das weder Lydia Nikolaewna noch er selbst besaß.

      Aber die einstige Nähe zwischen den Geschwistern hatte sich verflüchtigt wie ein Rauchfaden aus lauwarmer Asche. Und vielleicht war der Riss durch ihre Beziehung nicht nur den Jahren geschuldet, in denen Lydia mit ihrem Mann ein gänzlich anderes, von ihrem Bruder unabhängiges Leben gelebt hatte, sondern war auch eine Folge davon, dass er von ihrer Militärbesessenheit nichts wissen wollte und auch ihren Wunsch, ihr Sohn möge den Pfad seines Vaters einschlagen, nicht guthieß. Aber auch der mächtige Leonid Nikolaewitsch konnte ihm nicht helfen, und so nahm das Brennen immer mehr zu, verbrannte ihm den Rachen und die Kehle, immer dann, wenn er sich der Rolle bewusst wurde, die ihm als Sohn seines Vaters zugeteilt worden war. Wie sehr er doch wünschte, es hätte diesen Vater nicht gegeben, nie, nie, nie, er wäre lieber der Sohn eines bomjen, eines Penners, oder gar eines Anonymen, gerne hätte er den Nachnamen seiner Mutter getragen und in der Schule hinter seinem Rücken das Wort »Bastard« zugeflüstert bekommen, er hätte sich wenig drum geschert. Hätte nicht ständig aufgesetzt grinsen müssen, wenn Leute ihn nur deswegen anhielten, um sich zu vergewissern, ob er wirklich der einzige offizielle Thronfolger des berühmten Sergei Alexandrowitsch war.

      Oder zumindest jemanden zu haben, mit dem er sich das Leid hätte teilen können – wie oft er sich das gewünscht hatte. Wenigstens einen Bruder oder eine Schwester hätte dieser Held mit seiner Mutter zeugen können in den wenigen Monaten, die er zu Hause an der Seite seiner angebeteten Frau verbracht hatte. Und mit etwas mehr Mühe hätte er seiner Frau und seinem Sohn mehr Bedeutung beimessen können als dem Kampf gegen den Mudschahed.

      Aber so, so war er gefangen in der Festung aus Andenken und Anbetung, in einer anderen Zeit, und dazu verdammt, dabei zuzusehen, wie seine Mutter die Gegenwart, wie auch immer sie aussehen mochte, mit ihren eigenen Händen im Keim erstickte, ertränkte wie ein Kätzchen, dem es nicht bestimmt ist zu leben, weil es zu schwach geraten ist für die Welt. Vielleicht war sie selbst das arme, missratene Tierchen, das zu schwach war für die Zeit, in der es nun mal zu leben hatte. Zu schwach, ohne irgendwelche Medaillen und Heldentaten, die ihr als Schutzschild vor der Wirklichkeit hätten dienen können. Zu schwach für all die Änderungen, die seit dem Tod ihres Mannes erst über sie und dann über das ganze Land hereingebrochen waren. Es war auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich war das ganze Königreich, dem ihr Mann sein Leben geopfert hatte, zusammengebrochen, was würde schon der Zusammenbruch einer gewissen Lydia Nikolaewna ausmachen, einer ehemals passionierten Biologin und mittlerweile nur noch Witwe, der Mutter eines Jungen, der es nicht einmal schaffte, seiner Mutter die Wahrheit ins Gesicht zu brüllen und sich und somit auch ihr dadurch ein Stück Erlösung zu verschaffen. Endlich das Unaussprechliche aussprechen, obwohl beide längst Bescheid wussten, dass die einzige Wahrheit, die sie hätte ein Stück heilen, ein Stück lebensfähiger machen können, lauten musste, dass er niemals zum Militär gehen, dass er niemals den Spuren eines Toten hätte folgen dürfen. Dass sein Scheitern – und er wusste, dass sie es als solches empfand, denn egal, was er tat, zählte nicht, wenn es nicht der Entzündung und der Erhaltung des ewigen Feuers auf dem Grabe seines Vaters galt – seiner Unfähigkeit entsprang, seinen eigenen Wünschen zu folgen und zu erkennen, dass der Weg, den sie für ihn vorsah, über dieses Schattenreich direkt in die Hölle führte. Er hätte diesen Totenkult zerschlagen, sie dazu zwingen müssen, dem Leben endlich die Stirn zu bieten, und ihr diesen ins Ungewisse gerichteten, leeren Blick abgewöhnen müssen, wenn sie abends im Dunkeln in eine Decke oder einen Schal gehüllt versunken im Sessel saß wie eine Grabfigur aus Stein auf einem verwilderten, von allen vergessenen Friedhof.

      Wie oft hatte er nachts wach gelegen und sich vorgenommen, ihr das alles zu sagen, und war dann erschöpft zurück auf sein Kissen gefallen und hatte sich in die zusammengeballte Faust gebissen, um nicht loszubrüllen. Denn vor seinem inneren Auge erschien ihr enttäuschtes Gesicht, die große Enttäuschung, als er ihr mitteilte, dass er nicht zur Aufnahmeprüfung für die Militärakademie gegangen war, wo er doch dank ihres großen Einsatzes und ihrer unzähligen Anrufe bei den »höchsten Männern der sowjetischen Armee« – noch waren es keine russischen Streitkräfte – mit »ausgebreiteten Armen« erwartet wurde, um in die Fußstapfen des großen Sergei Alexandrowitsch zu treten und eine Offiziersausbildung zu beginnen, die er natürlich mit Bravour abschließen würde.

      Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich, die schreckliche Art, wie sie ihn ansah, als hätte er ihr einen Messerstich in die Mutterbrust versetzt. Monate habe sie darauf verwandt, um wegen der Empfehlungen ehemalige Kollegen seines Vaters ausfindig zu machen, um das für die älteste Militärakademie in Moskau nötige Gesundheitszeugnis zu beschaffen. Aber er dachte nur daran, wie er aus diesem maroden Land, das nach Fäulnis stank, herauskommen, ins Ausland ziehen könnte, oder etwas studieren, etwas lernen, was mit ihm zu tun hatte, was ihn im besten Fall vervollständigen, seine Umtriebigkeit ein wenig stillen, ihm eine Richtung weisen könnte. Für das eine Mal hatte er es geschafft, Zeit zu schinden, die ekelerregende Zukunft um einige Monate zu vertagen – denn die Zulassung für die nächste Prüfung würde er erst wieder im kommenden Jahr erhalten.

      Er erhielt Aufschub, hatte damals gerade die Schule absolviert und sich als Gaststudent für Kunst- und Literaturwissenschaften bei einer Universität eingeschrieben, nebenbei noch Literaturseminare belegt, wo er zum ersten Mal den Geschmack der Selbstbestimmung mit der Zungenspitze zu ertasten begann, doch die Mutter malträtierte ihn mit lästigen Fragen: Wann er sich auf die Prüfung vorbereiten, sich »in Form« bringen wolle, er vernachlässige ja seinen Körper, sie könne nicht mehr so viele wichtige Leute belästigen, er müsse sich auch Mühe geben, sie könne ja nicht stellvertretend für ihn …

      Im nächsten Jahr wiederholte er die gleiche Prozedur, indem er vorgab, ernsthaft krank zu sein, und behauptete, es sei eine Lungenentzündung, was zu einem heftigen Streit mit seiner Mutter führte, nachdem sie einen Arzt geholt und dieser ihn für kerngesund erklärt hatte.

      Er verlängerte sein Gaststudium um ein Jahr, und als die Zeit der nächsten Aufnahmeprüfung näher rückte, fuhr er einfach mit einigen Kommilitonen auf »Bildungsreise« nach Leningrad. Daraufhin weigerte sich Lydia Nikolaewna zwei Wochen lang, mit ihrem Sohn