Die Katze und der General. Nino Haratischwili. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nino Haratischwili
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022648
Скачать книгу
entwachsen.

      – Ich weiß. Alles, was glücklich macht, gehört sich nicht. Ich aber, Musa, ich will … Ach, egal.

      Sie wollte nichts mehr sagen, es war eh einerlei, er würde sie nicht verstehen. Er war ein guter Junge, ein kleiner Draufgänger, einer, der nicht zweifelte, einer, der seine Welt nicht hinterfragte, einer, der sich mit allem, was er im Leben vorfand, zufriedengab, außer … außer vielleicht mit den Russen und der Gottlosigkeit, die sie ins Land gebracht hatten, wie es sein Vater immer predigte.

      Aber es gab nichts zwischen ihnen zu klären, zu sagen. Sie wünschte ihm alles Gute, sie wünschte sogar seinem grimmigen Vater alles Gute, der vorhatte, mit ihrer Mutter zu sprechen, um die Ehe seines Sohnes zu arrangieren, und wahrscheinlich würde sich Mutter darüber sogar freuen, immerhin galten die Osmajews als wohlhabend und Musa als eine gute Partie, aber … Ja, es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.

      – Bitte kehr jetzt um. Es ist nicht mehr weit. Ich möchte den Weg alleine gehen.

      Plötzlich, wie ein beleidigtes Kind, widersetzte sich Musa nicht mehr, er widersprach ihr nicht einmal, er blieb an der Hauptstraße im schummrigen Laternenlicht einfach stehen. In seiner Lammfelljacke, die er bestimmt gemeinsam mit seinem Vater in Grosny oder Machatschkala auf dem Schwarzmarkt für viel Geld ersteigert hatte, denn schließlich waren diese Jacken in letzter Zeit zum Symbol des Wohlstands und des Ansehens geworden.

      Sie setzte ihren Weg fort, immer weiter, dem Flussrauschen nach, die Kieselsteine mit den Füßen zur Seite kickend.

      – Mach’s gut, Musa, und sei mir nicht böse!, rief sie in die Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzudrehen, und als sie schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden sein musste, hörte sie ihn etwas rufen. Den Anfang hatte sie nicht mehr hören können, aber die letzten Worte lauteten: – … Frau werden.

      Vielleicht stimmte es, und vielleicht hatte Natalia Iwanowna doch recht, als sie einen Grund für Vaters Verschwinden suchte und eine Theorie entwickelte. Das einzige Mal, dass sie ihr nicht zu Ende zugehört hatte, sondern aus der Scheune gestürmt war, ohne ihr Tschüs zu sagen, das war am gleichen Tag, an dem Vater verschwunden war und sie Natalia Iwanowna tränenüberströmt aufgesucht hatte:

      – Ich … ich … Er ist einfach verschwunden. Er ist weg. Er kommt nicht wieder, ich weiß, er ist weg … alle Sachen mitgenommen, wir haben alles abgesucht und …

      Sie stammelte und schluchzte.

      – Wer? Was ist los? Beruhige dich bitte, setz dich, ich mache dir einen Tee.

      Immer dieser Tee, als liege in dem heißen Getränk die magische Kraft, alles erdulden zu können.

      – Mein Vater … er hat uns verlassen.

      – Was ist passiert?

      – Er sollte nach Gudermes fahren, er hatte einen entzündeten Zahn und sollte dort zu einem Spezialisten … und er ist nicht wiedergekommen. Und dann haben wir nachgeschaut, und alle Sachen von ihm waren weg. Und mein Onkel und meine Cousins sind ihn suchen gefahren, aber er ist überhaupt nicht nach Gudermes … er ist dort nie angekommen …

      Nachdem sie sich lange genug die Seele aus dem Leib geweint und drei Tassen Tee getrunken hatte, nachdem sie alles doppelt und dreifach gesagt hatte, was es zu sagen gab, und wie eine Detektivin alles über den Morgen seines Verschwindens genauestens rekonstruiert hatte, ergriff Natalia Iwanowna das Wort und begann, nach Gründen für seinen Fortgang zu suchen. Das erschien Nura in dem Augenblick als eine Verhöhnung, sie wollte nichts von einem oder mehreren Gründen wissen, es könnte schlichtweg keinen Grund geben, dachte sie, der sein Verhalten rechtfertigen würde. Es gab keine Entschuldigung. Es sollte keine geben. Und so wollte sie auch nichts von Natalia Iwanownas kruden Theorien wissen. Die Nachsicht, das Akzeptieren der Leerstelle, die der Vater hinterließ, kam erst später, in den Wochen und Monaten danach, aber an jenem Tag wollte sie ihn einfach nur hassen. Und dass Natalia Iwanowna das nicht einsehen wollte, kam ihr unverzeihlich vor.

      – Vielleicht ist es manchen Menschen nur vergönnt, im Widerstand glücklich zu werden, sagte Natalia, und noch vieles anderes, vieles hatte sie zu erklären versucht, die Motive für seine Unfähigkeit, Teil seiner Umgebung und der Gemeinschaft zu werden, in die er hineingeboren worden war. Aber damals hatte sie von all dem nichts wissen wollen. Jetzt aber, wo sie die Schritte verlangsamend der Einladung des Flusses folgte und sich dem Rauschen hingab, sich fallen ließ, die Gedanken abschüttelte, überlegte sie sich, ob es ebenfalls ihr Erbe war, Widerstand zu leisten, immer und überall. Etwas an diesem Gedanken machte sie traurig, aber sie würde nicht nachgeben, der Traurigkeit keinen Raum geben, sie würde mit jedem Schritt, den sie auf dem Nachhauseweg tat, alle lästigen und unnützen Gedanken abschütteln und leer und leicht ankommen.

      Im gleichen Augenblick hörte sie ein Auto hupen, aus der Ferne ertönte ein Ruf, eine Männerstimme. Sie sah sich um, aus der Richtung des Auls kam ein Auto angefahren, nein, es waren zwei, plötzlich ging das Hupen in einen ununterbrochenen und enervierenden Lärm über, dann wieder Rufe. Sie blieb stehen und versuchte, in der Ferne etwas zu erkennen, um den Grund für die unangenehme Unruhe zu erraten, aber leider war es ihr nicht möglich, das Gedränge und der Lärm ergaben keinen Zusammenhang, keinen Sinn. Sie versuchte, weiterzugehen, aber jetzt näherte sich auch von der anderen Seite ein Wagen mit übertriebener Geschwindigkeit, ein schmutziger Geländewagen raste an ihr vorbei. Aus dem Fenster ragten Fahnen der Tschetschenischen Republik Itschkerien, und junge Männer in Armeejacken grölten irgendwas von den Rücksitzen. Zwei weitere Autos, diesmal alte Ladas, folgten, auch sie hupten ununterbrochen, und die Männer, die darin saßen, schrien irgendwelche Parolen und patriotische Slogans. In wenigen Sekunden war die gewohnte Ruhe der Schlucht durch einen undurchdringlichen, fremdartigen Lärm und einen hektischen Aufruhr durchbrochen.

      Sie versuchte, die Gesichter zu erkennen, aber ohne Erfolg, es war zu dunkel, auch blendeten sie die Autoscheinwerfer. Sie trat zur Seite und hoffte, die irritierende Karawane möge schnell vorbeiziehen. Aber das Gegenteil war der Fall: Wie eine Ameisenarmee tauchten von überallher immer mehr Autos auf und rasten durch die Schlucht. Sie fragte sich, ob irgendwo ein Fest stattfand, eine opulente Hochzeit im Nachbardorf vielleicht, aber die Fahnen, das Gegröle und die Überzahl an jungen Männern – all das war verdächtig, nichts davon erinnerte an ein Fest. Aber die Stimmung, die aufkam, hatte etwas Elektrisierendes, Rauschhaftes, für einen Augenblick ließ sie ihren Blick umherschweifen: Das Spiel der Scheinwerfer, das Auf- und Abtauchen der Lichter hatte etwas Unwirkliches an sich, begleitet von dem immerwährenden, gleichstarken Rauschen des Flusses.

      Plötzlich hörte sie jemanden ihren Namen rufen, sie schreckte zusammen und begann, nach dem Rufenden Ausschau zu halten, aber es waren mittlerweile so viele Autos, fast eine Kolonne hatte sich gebildet, eine Kolonne, die um die Wette raste. Sie kniff die Augen fest zusammen und drehte ihren Kopf hin und her, hielt den Mehlsack immer fester an sich gedrückt.

      – Nura, Nura!, brüllte es durch das Meer aus Motoren und Reifengeräuschen, durch das Hupen, das Geschrei und sogar den Gesang. Zuerst dachte sie an Musa, dass er mit dem Wagen seines Vaters zurückgekehrt war, um sie nach Hause zu begleiten, dann aber erkannte sie die kratzige Stimme Rustams, ihres ältesten Cousins, und wusste nicht, ob sie Erleichterung oder Enttäuschung empfinden sollte. Er war im gelben und klapprigen 06 seines Vaters unterwegs und hatte die Fensterscheibe heruntergekurbelt. Erstaunlicherweise war er ohne seine idiotische Gefolgschaft an testosterongesteuerten Brüdern und Freunden unterwegs.

      – Steig ein, steig schnell ein!, schrie er durch das offene Wagenfenster und kam quietschend am Straßenrand zum Stehen. Sie hüpfte schnell auf den Beifahrersitz, und bevor sie die Tür zugemacht hatte, fuhr er davon.

      – Ich suche dich schon seit über einer halben Stunde! Bist du irre, wieso nimmst du die Hauptstraße?

      Er wirkte aufgewühlt, er zündete sich eine Zigarette an, obwohl er vor seinem Vater nicht rauchte und es das Auto seines Vaters war. Typisch Rustam, einfach nicht nachdenken, schoss es ihr durch den Kopf, und sie freute sich über die Wärme, die sie im Wagen vorfand.

      – Was ist denn los? Warum suchst du mich? Nana wusste doch, wo ich bin …

      – Hast du denn nichts