Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Demian Lienhard
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022709
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eingesammelt worden waren. Die Bergwanderung zu zwei Dreitausendern, der Abscheu vor dem Schlossbergtunnel, der Ohnmachtsanfall auf der Schulreise zum Lago Maggiore und andere Belanglosigkeiten, zusammenhangslos wie Rolfs Leben. Der Pfarrer stockte, räusperte und wiederholte sich ständig. Die Erinnerungen ergänzte er nach Belieben, manche hat er frei erfunden. Er war weitsichtig, muss man wissen, und hatte seine Lesebrille vergessen.

      Das war knapp drei Monate, bevor Martina von der Brücke gesprungen ist und sechs Monate vor Kai. Unsere Klasse hatte damit bereits während des ersten Jahres drei Schüler verloren.

      Ganz schön viele Tote auf einmal, könnte man jetzt denken, aber das denke ich nicht.

      Im Tal, aus dem ich komme, ist das normal.

      Fünf

      Morgen ist heute. Wenn sich einer einmischt in etwas, wo er nicht hingehört: Das ist das Problem. Die Zukunft ins Jetzt.

      – Morgen gehst du wieder zur Schule, sagte meine Mutter und hielt mir das Thermometer hin: – 36,5 Grad, sagte sie.

      Dieses Morgen ist jetzt.

      Gestern habe ich gesagt: – Okay.

      Aber heute ist alles anders. Auch das Problem, weshalb ich nicht zur Schule gehen kann, ist ein anderes. Aber es bleibt eines. Und deswegen will ich nicht.

      In dreißig Minuten fängt die erste Stunde an. Wenn sich bis dann die drei Pickel nicht vollständig dahin zurückgezogen haben, wo sie hergekommen sind, setze ich keinen Fuß vor die Tür.

      Nach dem Aufstehen leuchten mir die Dinger im Spiegel entgegen wie Pistenfeuer. Drei Stück, auf der linken Wange. Ich kneife die Augen zusammen. Aber das hilft nicht. Sie sind noch immer da. Eins, zwei, drei. Groß und rund und prall. Das Ende einer gottverdammten Fonduegabel.

      – Du übertreibst, sagt meine Mutter.

      Da hat sie recht.

      – Stecknadelköpfe, sage ich.

      Meine Mutter lässt das Brot aus der Hand fallen. Es bleibt auf dem Teller liegen, mit der bestrichenen Seite nach unten. Als sie es aufhebt, liegt die Marmelade in gekräuselten Wellen über der Butter. Dazwischen kleben hellbraun die Brosamen.

      Meine Mutter seufzt.

      – Alba, du hast doch jetzt schon eine ganze Woche gefehlt.

      Das stimmt. Die Sache ist nur: Wenn deine Fieberkurve nach oben ausschlägt wie ein durchbrennendes Pferd, kannst du dich trotzdem ins Klassenzimmer setzen. Ich meine, das macht keiner und ich schon gar nicht. Aber du kannst. Und die Leute, die finden das gut. Deine Mutter findet das gut, der Lehrer findet das gut, sogar die Klasse findet das gut. Du schluckst eine Ponstan 500, die mit der hübschen Kerbe in der Mitte, und setzt dich ins Klassenzimmer. So einfach geht das. Mit Pickeln nicht.

      Aber das sage ich nicht. Ich sage:

      – Wenn du die Leute rausholst aus dem Tal, weil der Staudamm einen Riss hat, und dann reparierst du ihn und setzt einen Termin fest für die Leute, damit sie wieder zurückkehren können, wenn dann kurz vorher der Damm bricht, weil Unwetter ist oder irgendein Verrückter draufgeschossen hat mit seiner Panzerfaust, hältst du dann immer noch an deinem Termin fest?

      Der sitzt. Bestimmt. Wenn nicht, dann weiß ich auch nicht.

      Na ja.

      Meine Mutter schüttelt den Kopf.

      – Was sollen denn die Lehrer denken?

      – Was die denken sollen? Das ist denen doch so egal wie der Weltmarktpreis für Yakbutter …

      Meine Mutter springt auf und stößt den Tisch von sich weg.

      Sie brüllt:

      – Dass du schwänzt, und dass ich dich schlecht erzogen habe, das denken sie!

      Gut, das tut sie nicht wirklich, aber ich weiß, dass sie das denkt, und sie stößt auch den Tisch nicht weg. Nur ihre Lider fangen zu beben an, und ihre Lippen tun es. Was andere Menschen die Mienen durcheinanderwerfen lässt im ganzen Gesicht, führt bei meiner Mutter nur gerade dazu, dass sich ihr der Mund kräuselt und um die Augenwinkel die Haut. Damals zumindest noch.

      Und dann sagt meine Mutter das, was sie immer sagt, wenn sie gleich platzt vor Wut.

      – Alba, sagt sie, Alba …

      Meinen Namen sagt sie.

      Sonst sagt sie nichts.

      Also. Es ändert sich nichts an der Tatsache: Meine Mutter besteht darauf, dass ich in fünfzehn Minuten das Haus verlasse.

      Ich meine, diese gelben Dinger und der rote Krater ringsum. Vielleicht, dass sie einem Farbenblinden nicht aufgefallen wären. Aber Marcel ist nicht farbenblind. Und damit ist die Sache ausdiskutiert.

      Marcel. Damals, vor einem Jahr oder anderthalb, gehörte er zu den Kleinsten seiner Klasse. Aber als er zu uns kommt, fängt das mit dem Wachstum an. Er wächst und wächst und wächst und will gar nicht mehr aufhören damit. Er ist jetzt größer als alle anderen, die Lehrer eingeschlossen. Mit Marcel ist es so: Du schaust ihn an und denkst: Mann, ist der groß geworden. Und dann schaust du kurz weg, und wenn du wieder dahin blickst, wo eben noch seine Augen waren, schaust du auf einen zuckenden Adamsapfel. So schnell geht das. Man hat das Gefühl, Marcel ist sich selbst über den Kopf gewachsen.

      Marcel kümmert sich um gar nichts. Die Schule ist ihm egal. Und die Lehrer – erst recht. Seine Baumwolltrainerhosen trägt Marcel weiterhin, da kann der Rechsteiner noch lange herumfranzen an der Wandtafel vorne. Marcel sagt dann den einzigen Satz, den bis jetzt nicht einmal die drei Öfen pro Tag aus seinem Kopf gekriegt haben: – Je ne comprends pas. Er spricht dabei ziemlich vorsichtig und etwas unbeholfen, tastet sich Wort für Wort vor, als sagte er den Satz zum ersten Mal. Und der Rechsteiner streckt die Waffen.

      Jedenfalls: Mit der französischen Sprache hat’s Marcel nicht so. Aber mit der deutschen dafür umso mehr. Reden kann der Marcel, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und gleichzeitig gut aussehen dabei. Das Sprechen, das ist ihm angeboren. Und das werfen ihm auch die Lehrer vor. Wiederholen haben sie ihn lassen. Erst Anfang August ist er zu uns gekommen, die Dritte macht er jetzt zum zweiten Mal. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn: Des Wortwitzes wegen krümmt er gerne mal die Wahrheit. Daher auch das mit den Noten.

      – Die heißen so, sagt er, – weil sie notwendig sind, verstehst du?

      Ich nicke. Klar verstehe ich. Und ich verstehe auch, dass ich, wenn Marcel meine Mutter wäre, ganz sicher nicht mit drei Sprengkörpern im Gesicht zur Schule gehen müsste. Allerdings – es gäbe in diesem Fall auch weniger Anlass zu schwänzen, weil es dann keinen Marcel in der Schule gäbe. Und ich mit dem Marcel daheim nicht das …, was ich eigentlich …

      Ja.

      Also: Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Der Vorschlag meiner Mutter fällt da nicht hinein.

      Entweder drücke ich meine linke Gesichtshälfte während neun Lektionen gegen die Wand oder: Ich bleibe zu Hause. Ich entscheide mich für Letzteres. Ich bin Realistin, muss man wissen.

      Das kann man von meiner Mutter leider nicht behaupten. Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt. Es ist etwas anderes: Sie will mich zur Schule fahren.

      – Nicht, dass du dir gleich wieder was einfängst auf dem Weg, sagt sie und legt mir den blau-gelb gestreiften Wollschal um den Hals, streicht mir übers Haar und schiebt mich hinaus in die Dunkelheit, damit ich das Tor schließen kann, wenn sie aus der Garage gefahren ist.

      Vielleicht ist sie wirklich etwas in Sorge, aber vielleicht befürchtet sie auch einfach, dass ihre Tochter genau das vorhat, was sie nämlich vorhat: pünktlich die Wohnung zu verlassen und genauso pünktlich nicht zum Unterricht zu erscheinen.

      In ihrer Bestürzung, dass man das Autonome Zentrum in Zürich geschlossen hat, ist eine junge Frau an einem Freitagmorgen zum Bellevue gegangen, hat sich mit Benzin übergossen und angezündet. An jenem Nachmittag, an dem sie im Krankenhaus