Genau in diesem Moment fährt ein Peugeot-Kombi von der Gendarmerie an ihnen vorbei. In ihm sitzt einer der Zwillinge. Er hat es eilig, denn er will seinem Kollegen bei der Obduktion eines Elektrikers assistieren.
Sie hat gerade so böse an ihn gedacht. Sie könnte die Tat glatt noch mal begehen.
Yvonne Clerie sitzt seit 45 Minuten auf einem bequemen Stuhl, als ihr diese schlimmen Gedanken kommen. Der Mann ihr gegenüber hat zum Glück nichts gemerkt. Er ist ihr letzter Patient. Später wird nur noch ein Drogenabhängiger kommen, einer, bei dem es mit Reden allein nicht mehr getan ist.
Der Mann, der ihr seit 40 Minuten erzählt, warum sein Leben sich so entwickelt hat, dass er jetzt Hilfe braucht, ist weit davon entfernt, Drogen zu nehmen. Es sei denn, man bezeichnet drei Gläser Wein – aber erst abends! – als Drogenproblem. Seine Geschichte unterscheidet sich weniger von den Geschichten anderer, als er glaubt. Letztlich besteht das Problem darin, dass er sich nicht traut, eine Gehaltserhöhung zu fordern. Von da aus hat er in den letzten Monaten ein Selbstbild konstruiert, das darauf hinausläuft, dass er sich viel zu vieles im Leben nicht traut. Im Zuge seiner Amateuranalyse hat er die Welt, wie er sie sieht, so kompliziert gemacht, dass er seit einiger Zeit nicht mehr schlafen kann. Deshalb sind aus den drei Gläsern Wein inzwischen auch schon mal vier geworden.
Fachlich ausgedrückt: Routine.
Routine war es auch bei Maries Zwillingen. Gerade verlassen sie mit hochgeschlagenen Kapuzen die Gendarmerie, und einer von ihnen erzählt von seinem letzten Skiurlaub in den Bergen. Pulverschnee. Er war wegen des Elektrikers drauf gekommen, weil das Wort ›Eisangeln‹ ein paar Mal gefallen war. Ohayon grüßt mit einer knappen Bewegung der Hand, als er auf dem Parkplatz der Gendarmerie ihren Weg kreuzt. Er hat noch eine Vernehmung vor sich, vor seinem inneren Auge steht das Bild eines pappelumstandenen Bauernhofs.
Nachdem der Patient gegangen ist, wartet Yvonne auf ihren Spezialfall. Ob er überhaupt kommen wird? Ihre ehrenamtlichen Spezialfälle sind nicht immer zuverlässig, und dass sie vor zwei Jahren begonnen hat, sich um diese Menschen zu kümmern, war möglicherweise ein Fehler. Denn es kommen immer mehr. Irgendwann könnte mal einer darunter sein, der gefährlich ist. Gleichzeitig weiß Yvonne, dass einige von denen, die bei ihr Hilfe suchen, möglicherweise unter unwürdigen Umständen zugrunde gehen werden, wenn sie ihnen nicht hilft und ihr Leid beendet. Einige von denen, die zu Yvonne kommen, sind nicht mehr in der Krankenkasse, manche leben auf der Straße. Sie stellt also Anträge, kümmert sich darum, dass sie Medikamente an diese Patienten ausgeben darf. Es sind keine klassischen Junkies, sondern Schmerzpatienten, bei denen es aus dem Ruder gelaufen ist. Und es gibt bei ihr auch keine Hilfe, wenn man nicht in die Therapiestunde geht. Ein ganzer Tag pro Woche geht dafür drauf, plus ein Abend für den Papierkram. Sie fühlt sich verantwortlich, manchmal zu verantwortlich. Da muss sie aufpassen, die Grenze im Auge behalten, darauf achten, dass kein Abhängigkeitsverhältnis entsteht. Nur wie soll man ein Abhängigkeitsverhältnis vermeiden, wenn Menschen zu einem kommen, die in Not sind?
Während sie also, nervöser als sonst, auf ihren Spezialpatienten wartet, wird eine Frage unangenehm, fast bohrend. Sie hatte nach dem Unfall versucht, Nina zu erreichen, und die war fünf Minuten lang nicht ans Telefon gegangen. Wo war sie …?
Yvonne ist schnell klar, dass sie ihre Freundin auf völlig unsinnige Weise belastet, um ihre eigene Schuld an Michels Tod einzuschränken.
Es läuft darauf hinaus, dass Yvonne die halbe Stunde vor Michels tödlichem Unfall immer wieder in Gedanken durchspielt. Dabei geht es ihr vor allem darum, in welchem zeitlichen Abstand Autos einen Parkplatz verlassen haben. Anfangs meint sie, alles sei eindeutig und leicht zu erinnern. Dann wird ihr klar, dass es Lücken gibt. Aber auch Neues. Sie hatte in ihrem Erinnerungsfilm zunächst immer nur sich und Nina gesehen. Und natürlich Michels orangefarbenen BMW, wie er da im Regen unter der Traverse stand, an der starke Lampen und so weiter. Aber dann war ihr plötzlich eingefallen, dass auch Alain das Lacombe verlassen hatte. Noch vor Michel, ihr und Nina. Aber Alain? Konnte der etwas gemerkt oder getan haben? – Nein, eigentlich nicht.
Und so kommt sie nach einer Weile auf ihre Freundin zurück. Nina war gestern Abend sehr schnell mit allem gewesen. Sie hatte Einbruchwerkzeug dabei. Dafür, dass der Einbruch sich letztlich nur aus Michels völlig unerwartetem Tod ergeben hatte, war sie verdammt gut vorbereitet gewesen.
Das ist ungeheuerlich, das passt gar nicht zu ihr. Sie zieht nicht nur ihre Freundin Nina als Mitschuldige heran, jetzt hat sie auch noch den armen Alain aufs Feld gestellt. Bis jetzt steht er noch am Rand, aber er ist schon da.
Hör auf!
Sie kann aber nicht aufhören. Und so macht sie einen gedanklichen Rückwärtssprung und fragt sich, wie gut sie Nina eigentlich kennt. Was für ein Unsinn! Sehr gut natürlich! Sie kannten sich schon als Kinder. Da sie später in verschiedenen Städten studiert haben, verloren sie sich ein paar Jahre lang aus den Augen. Ist in der Zeit etwas mit Nina passiert …? Dann waren sie beide kurz nacheinander nach Fleurville zurückgekehrt. Als hätten sie sich abgesprochen. Sie hatten noch darüber gelacht und sich gefreut. Denn nichts ist so wichtig, so fest und unverbrüchlich wie eine Freundschaft aus Kindertagen.
Geld war Nina schon immer wichtig, hat sich das in den Jahren verstärkt?
Yvonne verbietet sich diesen Gedanken. Bei allem, was sie denkt, steht sie selbst im Mittelpunkt. Als ob alle Handlung einzig von ihr abhinge. Dabei könnte sie doch auch überlegen, was für Gedanken Nina oder Alain sich wohl über sie machen, und was für Schlüsse die beiden aus diesen Gedanken ziehen.
Plötzlich muss Yvonne an ein Abenteuer denken. Sie und Nina waren damals nach Madrid getrampt, obwohl sie wussten, dass junge Frauen da vorsichtig sein sollten. Nina hatte Yvonnes Befürchtungen zerstreut, indem sie ihr ein Klappmesser gezeigt hatte, das sie für den Fall der Fälle in ihrer Hosentasche trug. Und dann hatte sie ein komischer Belgier mitgenommen. Nina hatte sich, wie immer, nach hinten gesetzt …
Es klingelt.
Yvonne Clerie verlässt die Küche und geht durch den Flur zur Haustür. Es ist bereits dunkel. Manche ihrer Freunde meinen ja, es sei leichtsinnig, so spät noch Süchtige in ihrem Haus zu empfangen. Genauso gefährlich, wie sich von einem Belgier mitnehmen zu lassen. Kurz bevor sie die Tür öffnet, nimmt sie sich etwas vor. In einer halben Stunde ist sie hier fertig, dann wird sie ins Centre Fleur fahren, ein paar Runden schwimmen und anschließend im Lacombe essen, so viel sie Lust hat. Und zwar heute mal ohne auf irgendwelche Kalorien zu achten.
Sie öffnet die Tür.
Es ist ein Abhängiger, der da unter dem Licht steht, aber nicht der, auf den sie gewartet hat. Seine Haare und Schultern sind klatschnass.
»David.«
»Bitte …«
»Was willst du?«
»Wie immer.«
»Wer hat dich gebracht?«
»Ich bin selbst gekommen.«
»Du bist Auto gefahren?«
»Bitte, es geht mir schlecht. Ich muss ruhig werden.«
»Komm rein.«
Während sie David vorausgeht, muss sie wieder an den Belgier denken. An die Ereignisse im Auto damals. Daran, wie hysterisch Nina geworden war, mit ihrem Klappmesser. Am Ende hatte der Belgier sie angezeigt. Und das nur, weil sie und Nina etwas falsch verstanden hatten.
»Ich will eine Spritze.«
Warum hat er das gesagt? Er bekommt nie eine Spritze. Irgendwas an David scheint heute anders zu sein als sonst.
Während Yvonne nach dem richtigen Medikament sucht, beobachtet sie ihn, und was sie sieht, ist beunruhigend. Normalerweise redet David wie ein Wasserfall. Heute schweigt er, und … sieht er nicht gerade in Richtung ihres kleinen Zimmertresors? Dann in Richtung ihres neuen Laptops. Oder bildet sie sich das nur ein?