Da war sie zusammen mit Alain, Michel und ihrer Freundin Nina im Lacombe. Es wurde Sex Bomb von Tom Jones gespielt und ihre Freundin Nina hatte offenbar eine lustige Geschichte erzählt, jedenfalls wurde an ihrem Tisch gelacht.
Jetzt sitzt Yvonne in ihrem roten Alfa Romeo und weiß, dass sie Schuld hat am Tod eines Menschen. Das Schuldgefühl, das sie empfindet, ist nicht brennend, es ist dumpf. Und sie wünscht sich immer wieder dies eine. Die Zeit zurückzudrehen, es ungeschehen zu machen. Man sieht ihre Augen hinter der Frontscheibe, aber man sieht sie nicht gut. Erstens prasselt Regen aufs Glas, und zweitens ist es dunkel im Auto. Nur hin und wieder wischt ein Schein blauen und roten Lichts über ihr Gesicht, ihre Haare und ihre Schultern.
»Da ändert sich schon wieder die Farbe!« Ohayons Tochter hat ihr Würstchen inzwischen aufgegessen.
»Gefällt es dir also doch!«
»Nein.«
Florence ist gerade in einer etwas anstrengenden Phase, denn sie hat entdeckt, was für eine Macht das Wort ›nein‹ besitzt. Sie ist jetzt fast sieben und allmählich zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Nicht, dass es Anzeichen dafür gäbe, dass sie klein bleiben wird. Aber die Augen, das runde Gesicht. Vielleicht wird sie die lustigen Bäckchen von Ohayon übernehmen und irgendwann zum Anbeißen hübsch aussehen.
Schuld am Tod eines Menschen, das ist erst mal nur ein Gefühl, das muss noch lange kein Straftatbestand sein. Dieser ganze Bereich: Unterlassene Hilfeleistung, mangelnde Sorgfaltspflicht, Unachtsamkeit, ist für Juristen schwer einzugrenzen. Nicht nur die Gerichte haben da Schwierigkeiten, auch die Betroffenen selbst geraten ins Schwimmen. Einige haben nämlich den Hang, sich über die Maßen schuldig zu fühlen. Und für manche von ihnen wäre es das Beste, wenn gleich die Polizei käme und sie festnähme. Dann können sie alles beichten und sind raus aus diesem schrecklichen Dilemma mit der Schuld. Ein einfühlsamer Ermittler wie Ohayon brächte sicher Verständnis dafür auf, dass auch eine Frau wie Yvonne mal die Kontrolle verliert. Er würde bei ihr auch erst mal dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit abmildern, sie in den Arm nehmen und halten.
Nur weiß Ohayon nichts von dieser schrecklichen Sache und Yvonnes Schuld. Er kann schließlich nicht an zwei Orten zugleich sein. Man wünscht sich so was manchmal, aber es gibt keine über allem stehende Instanz, die ihm zurufen könnte: Du wirst woanders ganz dringend gebraucht, die Eröffnungsfeier am Bahnhof ist doch völlig unwichtig! – Unwichtig? Seine Tochter Florence freut sich seit Tagen auf das angekündigte Feuerwerk! Im Film kann man so was irgendwie hinmogeln. Durch Schnitte, musikalische Themen, asynchrone Bild-Text-Überblendungen oder so. Aber was hätte das noch mit der Wirklichkeit zu tun? Nein. Ohayon ist heute nicht zum Dienst eingeteilt, Resnais hat Dienst, so steht es am Brett. Und Resnais hat ihn bis jetzt nicht angerufen. Die Realität hat selten den Wunsch, etwas abzukürzen, zu überbrücken oder Yvonnes Leid zu mildern. Und vielleicht wäre das auch gar nicht gut. Vielleicht gehört dieses Leid, dieses Schuldgefühl einfach nur ihr. Nur Yvonne.
»Michel ist tot.«
Sie hatte zuerst gar nicht daran gedacht, Nina anzurufen. Sie hat einfach nur dagesessen und in die blinkenden Lichter der Feuerwehrfahrzeuge gestarrt, blau und rot und etwas verschwommen hinter dem Regen.
Einige Schaulustige sind bereits aus ihren Fahrzeugen gestiegen, stehen mit hochgeschlagenem Kragen rum und machen Aufnahmen mit ihren Smartphones. Das registriert sie kaum.
Dann endlich fällt es ihr ein. Sie löst sich aus ihrer Erstarrung und wählt Ninas Nummer. Aber die geht nicht ran. Yvonne sieht auf ihre Uhr und versteht nicht warum. Eine Weile beschäftigt sie der Umstand, dass ihre Freundin nicht an ihr Handy geht, so sehr, dass sie den Toten und ihre Schuldgedanken vollkommen vergisst. Als sie Nina fünf Minuten später endlich am Apparat hat, sagt sie zunächst gar nichts von dem, was sie doch eigentlich sagen wollte. Stattdessen fragt Yvonne ihre Freundin mit einer Schärfe, die einem Verhör gleicht, darüber aus, warum sie eben nicht zu erreichen war. Erst dann kommt der Satz, der ihr doch der Wichtigste war.
»Michel ist tot.«
»Wer weiß davon?«, fragt Nina sofort. Das irritiert Yvonne.
»Alle. Bald alle. Die Feuerwehr ist schon da, und die von der Gendarmerie kommen bestimmt auch gleich.«
»Wo stehst du?«
»In der Rue Bisson. Ich sehe sein Auto.«
»Du musst da weg! Sofort.«
Weiße Schwingen aus Wasser bilden sich bisweilen links und rechts, denn Yvonnes Alfa Romeo fährt durch Pfützen.
Jetzt ist sie bereits zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Sie fühlt sich noch immer hilflos, aber der Moment reinsten Schuldgefühls ist dabei, sich aufzulösen in eine Argumentation, die bald in innere Dialoge übergehen wird. Es geht schnell. Die Gedanken werden konkreter: ›Die von der Feuerwehr waren beschäftigt, es gab viele Schaulustige, niemand hat auf mich geachtet …‹
Ihr Handy klingelt.
»Ich bin’s noch mal. Wo bist du, Yvonne?«
»Gleich zu Hause.«
»Wir treffen uns bei Michel.«
»Nein!«
»Wir treffen uns bei Michel. Bitte. Du darfst mich jetzt nicht im Stich lassen. Ich bringe Werkzeug mit. Fahr nicht zu dicht mit dem Auto ran.«
In diesem Moment klingelt Marie Greniers Handy. Alle warten auf die Ansprache des Bürgermeisters. Marie wird sie verpassen. Sie sucht sich, noch während sie in ihr Handy spricht, erste Anweisungen erteilt, ihren Weg durch die Reihe. Ohayon blickt ihr nach und sein Gesicht sieht ein paar Sekunden lang anders aus als vorher.
Zweimal blinkt eine Taschenlampe. Nur kurz. Yvonne zuckt zusammen, als sie Nina neben ihrem Auto entdeckt. Und die hat tatsächlich Werkzeug dabei.
»Danke, dass du gekommen bist, Yvonne, ich … Wir müssen leise sein.«
Keine Umarmung, keine Tränen, kein Geständnis.
Yvonne folgt ihrer Freundin zu einer Tür. Aber wie sie geht! Was ist während der Fahrt passiert? Vor 20 Minuten fühlte sie sich noch so schuldig, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Jetzt geht sie, und auch wenn es in der Dunkelheit nur schlecht zu erkennen ist, sie geht zügig. Es ist der typische Gang einer Frau, die innerlich repetiert: ›Egal wie schlimm es wird, das muss ich jetzt machen.‹
»Die Tür schließt er nie ab«, erklärt Nina, und Yvonne nickt, als wäre diese Bemerkung völlig in Ordnung. Sie lässt sich von Nina ein paar Gartenhandschuhe geben und streift sie über. Kein Widerspruch, keine Frage. Das ist ungeheuerlich! Noch vor einer Stunde hörten sie Sex Bomb von Tom Jones, jetzt stehen sie vor der Tür eines Mannes, der eben durch eine von ihnen ums Leben gekommen ist, und ziehen sich klobige Gartenhandschuhe an. Solche aus Leder, wie normalerweise Männer sie tragen. Yvonne nimmt es hin, dass ihre Freundin einen großen Schraubenzieher am Schloss ansetzt, um es aufzuhebeln.
Doch dann zögert Nina. Warum? Yvonne weiß es nicht, niemand würde darauf kommen.
Nina Havelot sieht vor ihrem inneren Auge ein Klavier. Und die damit verbundenen Gedanken bewirken, dass ihr Tränen in die Augen schießen, dass sie anfängt zu zittern und den Schraubenzieher nicht in den Schlitz zwischen Türblatt und Rahmen bekommt, dass sie absetzen muss, dass sie sich umdreht und … Jetzt endlich nimmt Yvonne ihre Freundin in den Arm und hält sie. Auch ihr selbst ist zum Heulen zumute. Weil Michel ja ein Freund war. Weil niemand vorhatte, ihn zu töten. Und genau das sagt sie dann auch.
»Ich wollte es nicht.«
»Wir wollten es beide nicht.«
Der kurze Dialog gibt Nina die Kraft, die sie braucht, sie kriegt den Schraubenzieher in den Schlitz.
Wie professionell sie vorgehen. Nina hat, kaum, dass sie im Haus sind, die Vorhänge zugezogen und Yvonne eine der beiden Taschenlampen gegeben. Schubladen werden durchsucht.
Sie