Würden also die Bezugspersonen der frühen Kindheit wissen, was sie in Hinkunft durch Liebesentzug anrichten könnten, würden sie wohl auf diese »schwarze Pädagogik«23 verzichten – außer sie sind bewusste Sadisten. Liebesentzug dient immer nur der Kontrolle. Mit Förderung bzw. Lebensvorbereitung hat dies nichts zu tun, auch wenn es immer wieder behauptet wird. Wer aber erkannt hat, wie er oder sie durch Liebesentzug zu »Pflegeleichtigkeit« manipuliert wurde, kann trainieren, die dadurch hervorgerufene verzweifelte Unterwerfungsbereitschaft durch selbstachtende Distanzierung loszulassen.
Man muss eigentlich nur die angezüchtete Illusion vermeiden, Eltern täten alles nur zu unserem Besten. Eine Postkarte kommt mir in den Sinn: darauf ein Bär mit Sprechblase »Alle wollen nur mein Bestes – aber ich geb’s nicht her!« Und wie immer: Auch hier muss man erst die passende Nervenverdrahtung aufbauen – doch wenn man das erkannt hat, kann man das autonom und ohne professionelle Besserwisser. Man muss sich nur fragen, welche anderen Reaktionsmöglichkeiten es gäbe … und diese vor dem geistigen Auge vorbeiziehen lassen und sich »einspiegeln«. Am Abend die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen und selbstkritisch Verbesserungsbedarf zu orten, reicht oft, um sich vorzustellen, wie alternatives Verhalten gewesen wäre.
Liebesentzug dient immer nur der Kontrolle.
In der Transaktionsanalyse, einer psychotherapeutischen Schule, heißt diese Form der Veränderung von Verhaltensmustern »Drehbuch schreiben«: Man stellt sich entspannt vor, man sei der Drehbuchautor und auch Regisseur seines eigenen Lebensfilms und schreibe das Skript für den Helden, die Heldin – also sich selbst – einfach um.24
Wichtig dabei ist aber auch, ergänze ich, den Souffleur – den andauernd kommentierenden »Kopfbewohner«25 – liebevoll »in Pension zu schicken«. Denn nur zu oft sind seine Worte die Sätze der verinnerlichten Bezugspersonen der frühen Kindheit, die warnen: »Wenn du so trotzig bist, wird dich nie jemand mögen!« Dieser unwahre Satz – denn wer weiß schon, was die Zukunft bringt – hat Verwünschungs-Charakter! Er kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, wenn man an ihn glaubt.
Sobald sich aber solche Sätze wie so oft unbedacht im sprachlichen Standard-Repertoire einer Großfamilie breitgemacht haben, können sie zur Selbstwert und Gesundheit schädigenden Litanei werden. Man traut sich dann nichts mehr zu, verhält sich ungeschickt oder unschicklich und vertreibt mögliche Freunde und Liebhaber, bleibt damit allein zurück und bestätigt so ungewollt den Fluch.
Der Blick durch das Teleskop der Zeit
Man muss nicht schwer traumatisiert sein, um sich anders zu fühlen als diejenigen, die dem Idealbild der jeweiligen Kultur entsprechen.
Viele kleine Mikrotraumata von Ablehnung und Abwertung haben denselben Effekt: Man bleibt in der historischen Situation der Traumatisierungen stecken. Denn was alle Traumata eint, ist das Stehenbleiben der Lebenszeit für die paar Sekunden oder Minuten des Außer-sich-Seins, bis man wieder »bei sich« ist.26
Deshalb ist es wichtig, solche Situationen im Nachhinein erklärt zu bekommen, aber dazu auch eine Anleitung, wie man wieder zu sich kommt: indem man nämlich das Erlebte wieder und wieder erzählen darf und mitfühlende Zuhörer hoffentlich beweisen, dass man auch ein achtens- und liebenswerter Mensch ist, wenn man »beschädigt« wurde. Dadurch wird nämlich nicht nur die Einbindung in die soziale Gemeinschaft bestätigt und die soziale Gesundheit gefördert, sondern die beeinträchtigte Person gewinnt auch Zuwachs an Heilungsenergie – so wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: Der Mensch ist dem Menschen ein Heilmittel.
In Europa heißt es dagegen: homo homini lupus est – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
In Gruppendynamik-Seminaren gibt es eine Übung, in der man eine Person aus dem Zimmer schickt, um in Ruhe eine kurze Rede vorzubereiten. Den im Raum Verbleibenden wird aufgetragen, auf die Präsentation des Kollegen oder der Kollegin zuerst desinteressiert bis störend zu reagieren, danach aber auf Interesse und Zustimmung umzuschalten. Der Sinn der Übung liegt darin, ersichtlich zu machen, wie leicht man durch Aufmerksamkeitsentzug gestresst, ja sogar in tiefe Verzweiflung gestürzt werden kann. Ich erinnere gerne an Max Frisch, der einmal darauf hingewiesen hat, dass jede gelingende Kommunikation vom Wohlwollen des jeweils anderen abhängt. Ich ergänze: nicht nur vom Wohlwollen, sondern vor allem auch von den Absichten – ob jemand auf Rücksicht und Partnerschaft bedacht ist oder auf Dominanz und Unterwerfung abzielt, und das unabhängig von Alter, Geschlecht oder anderen differenten Eigenschaften.
Ich habe diese Übung im Rahmen der vielen Seminare kennengelernt, in denen wir Nachwuchspolitiker/innen damals in den 1970er Jahren auf Widerstandskraft gegen Störversuche bei Reden in Volksvertretungen vorbereitet wurden. Man kann den Tenor solcher Trainings aber auch umgekehrt darauf ausrichten, andere bis zum Nervenzusammenbruch zu quälen – oder, wieder umgekehrt, auf psychohygienischen Verzicht auf Situationen mit vermutlicher Gefahr psychischer Verletzungen. Denn: Auch wer sich selbst zur Waffe macht und gleichsam zu einem Pistolenlauf verengt, schadet der eigenen seelischen wie sozialen Gesundheit.
Wenn jemand »aus der Rolle fällt« – egal, was vorher Auslöser war –, kann man ziemlich sicher sein, dass sich die Mehrheit der Anwesenden peinlich berührt zurückzieht. Die »Rolle«, die damit nachdrücklich eingefordert wird, ist die des »standhaften Zinnsoldaten«: Ohren steif halten, Zähne zusammenbeißen, keine Wehlaute von sich geben, dulden. In dem – tatsächlich zu Unrecht – traditionell als konservativ etikettierten Niederösterreich gibt es dazu das Scherzwort »Hände falten, Goschen halten!«
Die Aufforderung, die Kieferpartie fest zu verschließen – und ja nicht auf animalische Weise zuzubeißen, bissige Bemerkungen zu machen oder auch nur zu seufzen –, führt schnurstracks zur »depressiven Maske«. Mit diesem Namen wird der starre Gesichtsausdruck diagnostiziert, der schwerere depressive Episoden begleitet.
Dazu: Im denkmalgeschützten Jugendstiltheater auf dem Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien führten vor Jahren Patienten ein Stück auf mit dem weisen Titel »Strategien gegen die Trauer: das Saufen – das Reden«. Wem das Reden – und sei es nur indirekt – verboten wird, wird suggeriert, er oder sie möge sich jeglicher menschlichen Regung enthalten, kurz: sich tot stellen. Das hat zwar auch einen Vorteil – man wird dann leicht übersehen und erspart sich möglicherweise weitere Angriffe. Auf Dauer wird man aber zu nichts gemacht – seelisch vernichtet – wenn man keine bewussten mentalen Gegenmaßnahmen setzt. Als Kind kann das noch niemand – aber wenn man auch später keine Anleitung findet, bleibt meist nur die Zuflucht bei den sprachlosen Leidensgefährten, und die findet man am leichtesten in Wirtshäusern. (Frauen wählten dagegen das Reden und suchten den Beichtvater auf oder Frauengruppen.)
Zu nichts machen
Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, zeigen sich immer wieder Machtkämpfe, in denen Verachtung, Boykott, Isolierung einerseits, Verbannungen und Deportationen andererseits als Mittel zur gezielten psychischen Vernichtung angewandt wurden. Das hat seinen Anfang bei ungewollten, ungeliebten Kindern, setzt sich in der Schule fort, wo Lehrkräfte unbewusst die Schüler bevorzugen, die ihren Erwartungen entsprechen, führt über die geheimen Auswahlkriterien beliebter Teenager, Partnerpersonen und Mitarbeiter bis zu den Wahlmodalitäten für politische Mandatare – und dem Umgang mit den Konkurrenten und Opponenten, die durch den Psychoterror der Ignoranz und Exklusion zum Aufgeben veranlasst werden sollen.
Aber nicht nur auf national- und religionspolitischen Ebenen