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Автор: Dietmar Grieser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903083974
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mit all jenen Gütern zu versorgen, deren er in der Neuen Welt schwer habhaft werden kann. Dazu zählt nicht nur das Schreibmaterial, das er für seine Forschungsberichte braucht, sondern vor allem Noten: Auch an den entlegensten Orten seiner Südamerika-Aufenthalte hat Thaddäus Haenke nicht aufgehört, einer Leidenschaft zu frönen, die ihm von Kind an zur zweiten Natur geworden ist: dem Musizieren.

      Nun aber wohl doch des ruhelosen Herumziehens müde, ist er seit 1796 seßhaft: Die bolivianische Bezirksstadt Cochabamba wird der Ort seiner Wahl. In vollen Zügen genießt er den ewigen Frühling der in 2500 Meter Höhe gelegenen Indiosiedlung: »Europa«, so schreibt er in einem seiner Briefe in die alte Heimat Böhmen, »würde sich entvölkern, wüßte man dort von der Schönheit dieses Landes, das auch eines der gesündesten auf Gottes Erdboden ist.«

      Hält er sich nicht gerade in einer der Missionsstationen der Gegend auf, um von dort aus seine Naturstudien fortzusetzen, trifft er sich mit gleichgesinnten Ausländern zu gemeinsamem Musizieren. »Ich habe ein ziemlich gutes Fortepiano«, schreibt er an seinen Bruder und bittet ihn um eine »Sammlung guter Musicalien« für dieses Instrument: »Besonders wünsche ich Sonaten von Mozart, Clementi, Haydn, Pleyel und Sterkl.« Auch Klavierauszüge von Opern sind ihm willkommen; er nennt die Namen Paisiello, Gluck und Graun. Was Messen und Oratorien betrifft, so bevorzugt er »kurze und leichte«, denn: »Die Musik ist in diesem Lande noch in ihrer Kindheit.« Natürlich kümmert er sich auch ums Finanzielle: »Ich werde Gelegenheit suchen, Dir zum Einkaufen dieser musicalischen Werke 500 f. zu übersenden.«

      Sobald wieder ein frischer Packen Noten aus Europa eintrifft, macht sich Haenke ans Kopieren der einzelnen Stimmen für die von ihm zusammengestellten Quartette und Quintette, gespielt wird vor geladenem Publikum, und fehlt es für eines der Instrumente an der nötigen Besetzung, ist es er, der einspringt: Klarinette und Oboe beherrscht er ebenso wie Pianoforte und Cembalo.

      Wozu aber trägt er seinem Bruder eines Tages auf, auch Notenpapier ins ferne Cochabamba zu schicken? Will sich Haenke gar als Komponist versuchen?

      Die Idee, die ihn seit längerer Zeit nicht mehr losläßt, ist: den Gesang all der exotischen Vögel, denen er auf seinen botanischen Wanderungen begegnet, in Notenschrift festzuhalten. Um ihr Äußeres zu beschreiben, ihre Gestalt, ihre Farbenpracht, ihre Art des Fliegens, genügt das Notizbuch, das er stets mit sich führt. Um aber den Europäern, die er laufend mit seinem Wissen von der Neuen Welt versorgt, auch einen Eindruck von den Stimmen all der gefiederten Sänger zu vermitteln, beschließt er, was er hört, niederzuschreiben. Wenn es ihm gelingt, für die einzelnen Stimmen die adäquaten Musikinstrumente zu finden, müßte es doch möglich sein, an jedem anderen Platz der Erde das solcherart Festgehaltene zu rekapitulieren: Vogelstimmen – sozusagen vom Blatt.

      Schon als Kind, da er noch in der elterlichen Heimat Böhmen die Felder und Wälder durchstreift, haben es ihm die gefiederten Gesellen angetan, und mit fünfzehn, nunmehr Gymnasiast in Prag, schreibt er an seinen Vater:

      »Ich wünschte von unseren Vogelstellern und auch Jägern zu erfahren, welche Vögel sich in unserer Gegend aufhalten, wie sie sich verbergen, wie sie sich schützen und wovon sie sich ernähren.« Ob Sperling, Schwalbe oder Lerche, ob Grasmücke, Schneekönig oder Fink: Wann im Frühling starten sie zu ihren Flügen, wann setzt ihr Gesang ein? Ob man ihm vielleicht gar einen »schönen, seltenen Vogel«, der eingegangen ist, »tot in einer Schachtel« nach Prag schicken könnte, damit er ihn ausstopfen und »nach systematischen Kennzeichen untersuchen« kann?

      Jetzt in Bolivien, 25 Jahre später, erwacht das alte ornithologische Interesse wieder; Thaddäus Haenke berichtet nach Europa:

      »Diese Vielfalt! Der Euphonia, der orgelnd den Sturm meldet, aber auch wie eine Nachtigall zu flöten weiß. Der Cyphorhinus, dessen Abgesang wie eine verstimmte Drehorgel klingt. Der Pfefferfresser, der sein ›Dios te dé‹ schnattert. Der bellende Ochsenvogel. Der gehörnte Camungo – dieser gefiederte Esel mit seinem klagenden ›iaa‹. Oder das Felsenhuhn – diese elegante Prinzessin, die wie ein Schwein grunzt. Doch auch die Papageien und die Kolibris, der siebenfarbene Tanagra und der rosarote Kuckuck – welch ›enorme Musikanten‹! Größter aller Virtuosen aber ist dieser kleine Kerl, den sie hier Organito nennen. Sein Gesang steigt zu den Wolken auf, er orgelt so verschiedenartig und harmonisch, als wollte er sämtliche Akkorde anstimmen. Er lebt im dichtesten Wald, am Rande der Abgründe, weshalb es schwierig ist, ihn zu Gesicht zu bekommen, diesen unvergleichlichen Sänger.«

      Also wenn schon nicht zu Gesicht, so doch wenigstens zu Gehör. Und Thaddäus Haenke schreibt, was da an Melodien an sein Ohr dringt, nieder. In Notenschrift markiert er Tonfolge und Rhythmus, ordnet ihnen das entsprechende Musikinstrument zu.

      Natürlich wüßten wir gern, was aus diesen einzigartigen Dokumenten geworden ist, die Thaddäus Haenke, mit Datum und Namen versehen, dem Konvolut seiner »Historia Natural« einverleibt und an seine Auftraggeber nach Madrid expediert. Sind seine »Vogelnoten« jemals von Musikern intoniert, die »Partituren« des Tunqui und des Organito jemals in einem Konzertsaal »aufgeführt« worden? Oder steht es uns gar noch bevor? Vieles von Haenkes Aufzeichnungen ist auf dem langen Transportweg von Amerika nach Europa in Verlust geraten, anderes in den Kolonialarchiven der Spanier vermodert. Die Edition des erhaltengebliebenen Teiles seines Nachlasses, an der seit einigen Jahren gearbeitet wird, soll, so ist zu hoffen, das Geheimnis lüften.

      Aus: Verborgener Ruhm, 2004

      Vom Ladenschwengel zum Meisterregisseur

       Josef von Sternberg

      Als dem Schauspieler William Powell 1929 ein frischer Hollywood-Vertrag zur Unterschrift vorgelegt wird, besteht er auf der Zusatzklausel, er dürfe niemals wieder für einen Film verpflichtet werden, bei dem Josef von Sternberg Regie führt. Auch für andere aus der Branche ist der zu dieser Zeit Fünfunddreißigjährige ein Leuteschinder sondergleichen, und als er gegen Ende seines Lebens zur Feder greift und seine Erinnerungen niederschreibt, bemüht er sich selber um eine Erklärung für sein tyrannisches Walten hinter der Kamera. Ob es mit seiner harten Kindheit zu tun haben mag?

      Jonas Stern – so der bürgerliche Name des am 29. Mai 1894 im Wiener Bezirk Leopoldstadt Geborenen – wächst in bedrückenden Verhältnissen auf: Für jede Tracht Prügel muß er dem Vater die Hand küssen, sein Religionslehrer macht aus dem Hebräisch-Unterricht ein sadistisches Inferno, die Freuden der Praterlokale mit ihren duftenden Gänsebraten, schäumenden Limonaden und betörenden Strauß-Walzern kennt er nur vom »Speanzeln« durch den Zaun.

      Aber auch im gelobten Land Amerika, wohin die siebenköpfige Familie 1908 auswandert, läßt das Glück auf sich warten: Der Vierzehnjährige darf in einem New Yorker Putzmacherladen Kellerstiege und Trottoir reinigen, und als er auch diesen Job verliert, muß er froh sein, sich mit Schneeschaufeln durchzubringen, mit Hausieren oder mit dem Zustellen von Packpapier.

      Der »Einstieg« ins Filmgeschäft erfolgt, als ihn ein gleichaltriger Bursche, den er beim Streunen durch die Parks von Manhattan kennengelernt hat, in die Geheimnisse einer Kellerwerkstatt einweiht, in der dessen Vater mit einer selbstgefertigten Apparatur ramponierte Filmbänder »aufmöbelt«. Für 15 Dollar pro Woche darf Jung-Jonas mit Rasierklinge und Klebstoff mithelfen, in der Reparaturabteilung einer Verleihfirma die verschlissenen Kopien von ihren Verschmutzungen, Schrammen und Rissen zu befreien, damit sie wenigstens noch fürs Abspielen in drittklassigen Vorstadtkinos taugen.

      Da er seine Sache gut macht, steigt unser Held mit der Zeit zum Leiter der Versandabteilung auf: Nun hat er dafür zu sorgen, daß die Kinos pünktlich ihre Filmrollen bekommen. Und als er sich eines Tage in jenem Vorführraum zu schaffen macht, in dem sich die Regisseure die Muster ihrer vor der Endfertigung stehenden Streifen ansehen, wird man auch dort auf den cleveren Typ aufmerksam und überträgt ihm – noch befinden wir uns in der Stummfilmära! – die Kontrolle der Zwischentitel.

      Was er hier den Aufnahmeleitern, Scriptgirls und Cutterinnen bei deren Arbeit abguckt, kommt ihm zustatten, als er während des Ersten Weltkrieges zum Militär einrückt: Jonas Stern kann sich bei der Herstellung wehrertüchtigender Lehrfilme für die US-Army nützlich machen. Und als er 1918 die Uniform ablegt, ist er endgültig