Ich war siebzehn, als ich meinen Großvater zum letzten Mal sah. Der Gehirntumor, der ihn schließlich tötete, hatte ihm bereits einen furchtbaren Tribut abgefordert. Der Mann, der immer wie ein Baum im Leben gestanden hatte, war nun gebeugt und verwelkt. Seine Ranch, ein Bild seines Lebens, verfiel. Ich fand einfach keinen Kontext dafür, nichts Größeres, das diesem Geschehen einen erlösenden Sinn hätte geben können. So distanzierte ich mich von ihm und von diesem letzten Beweis, dass ich allein war in der Welt. Als er starb, brachte ich es nicht über mich, an der Beerdigung teilzunehmen.
Erst Jahre später, im Sommer 1993, stand ich zum ersten Mal am Grab meines Großvaters. Nach sechzehn Jahren hatte ich diese Pilgerfahrt angetreten, um mich der Wirklichkeit zu stellen, vor der ich so lange davongelaufen war. Dort lag sie in stillem, unbestreitbarem Triumph: die Botschaft der Pfeile.
Die meisten von uns spüren, dass wir allein sind in der Welt – ob wir das nun mit der Endgültigkeit empfinden, wie Brent und ich es taten, oder als eine unterschwellige Furcht in den hinteren Winkeln unseres Denkens. Niemand war je für uns da mit der Stärke, der Zärtlichkeit und der Beständigkeit, nach der wir uns sehnen. Selbst in den besten Situationen lassen uns die Leute letzten Endes im Stich. Unser persönliches Drama lässt uns wenig Hoffnung auf einen Autor, der die Geschichte zu einem guten Ende führen wird. Chesterton sagte, dass wir die Geschichte, in der wir uns befinden, gewiss missverstehen werden, und er hatte Recht. Dazu kommt, dass diejenigen, die uns am nächsten stehen, uns oftmals auch noch in dieser Fehldeutung bestärken.
Trotzdem müssen wir uns irgendeinen Reim auf die Dinge machen. Das Leben geht weiter, und auch wir müssen vorwärts gehen. Um teilzunehmen oder auch einfach nur zu überleben, werden wir irgendeine Geschichte finden, in der wir leben.
Warum eine Geschichte?
Die tiefsten Überzeugungen unseres Herzens werden durch Geschichten geformt und sie verweilen dort in Form von Bildern und Emotionen aus Geschichten. Als kleiner Junge, etwa um die Zeit, als in meinem Herzen der Verdacht aufkeimte, dass die Welt ein Furcht erregender Ort sei und dass ich ganz allein meinen Weg durch sie finden müsste, las ich die Geschichte eines schottischen Diskuswerfers aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er lebte in der Zeit, als es noch keine professionellen Trainer gab, und entwickelte seine Fähigkeiten allein in der Umgebung seines Heimatdorfes im schottischen Hochland. Sogar seinen Diskus stellte er sich selber her, aus Eisen nach einer Beschreibung, die er in einem Buch gelesen hatte. Was er nicht wusste, war, dass der Diskus, der in Wettkämpfen verwendet wurde, aus Holz bestand und nur einen äußeren Rand aus Eisen hatte. Seiner war aus massivem Metall und wog drei oder vier Mal so viel wie jene, die von seinen Wettkampfgegnern verwendet wurden. Dieser entschlossene Schotte markierte in seinem Acker die Entfernung des gegenwärtigen Rekordwurfes und trainierte Tag und Nacht, um diesen Rekord einzustellen. Fast ein Jahr lang mühte er sich unter der selbst auferlegten Bürde des zusätzlichen Gewichtes ab. Aber er wurde gut, sehr, sehr gut. Er kam so weit, dass er seinen eisernen Diskus bis zur Rekordmarke schleudern konnte, vielleicht sogar noch weiter. Er war bereit.
Mein Schotte (ich hatte angefangen mich sehr mit ihm zu identifizieren) machte sich auf den Weg nach Süden zu seinem ersten Wettkampf in England. Als er in der Arena eintraf, reichte man ihm den offiziellen hölzernen Diskus – den er prompt von sich schleuderte wie eine Untertasse. Er stellte einen neuen Rekord auf, mit einer Weite, die so weit jenseits der seiner Wettkampfgegner lag, dass niemand an ihn herankommen konnte. So blieb er viele Jahre lang der ungeschlagene Champion.
Irgendetwas in meinem Herzen sprach sehr stark auf diese Geschichte an. So macht man das also: Man trainiert mit schwersten Gewichten, und dann ist man dem Rest der Welt so weit überlegen, dass keiner mehr an einen herankommt. Das wurde zu einem Leitbild für mein Leben, geformt in und aus einer Geschichte.
Das Leben ist keine Liste von Lehraussagen, es ist eine Reihe dramatischer Szenen. Eugene Peterson sagte: „Wir leben in einer Erzählung, wir leben in einer Geschichte. Das Dasein hat die Form einer Geschichte. Wir haben einen Anfang und ein Ende, wir haben eine Handlung, wir haben Charaktere.“
Geschichten sind die Sprache des Herzens. Unsere Seelen sprechen nicht in den nackten Tatsachen der Mathematik oder in den abstrakten Aussagen der systematischen Theologie; sie sprechen in den Bildern und Emotionen von Geschichten. Vergleichen Sie Ihre Begeisterung für das Lesen eines Lehrbuchs mit der über das Angebot, in einen Film zu gehen, einen Roman zu lesen oder sich Geschichten aus dem Leben eines anderen anzuhören. Elie Wiesel meint, dass „Gott den Menschen erschuf, weil er Geschichten liebt“. Wenn wir also die Antwort auf das Rätsel der Erde – und unserer eigenen Existenz – finden wollen, dann werden wir es in Geschichten finden.
Es war einmal eine Zeit, in der die westliche Welt eine Geschichte hatte. Stellen Sie sich vor, Sie hätten im Hochmittelalter gelebt. Ihre Welt wäre durchdrungen von christlichen Bildern. Sie würden den Ablauf der Tage nach dem Klang der Kirchenglocken messen, und die Wochen und Monate nach dem liturgischen Kalender. Sie würden im Anno Domini leben, im Jahr unseres Herrn. Es wäre nicht die Fußballsaison, es wäre Advent. Ihre Vorbilder wären die Heiligen, deren Gedenktage Sie beständig an ein Drama erinnerten, das größer ist als Sie selbst. Die Architektur der Kathedrale, die Musik, die Literatur und die Bildhauerkunst vermittelten Ihnen eine Vision der Transzendenz und erinnerten Sie an die zentralen Elemente jener Großen Geschichte. Das christliche Verständnis der Geschichte des Lebens schlüge sich sogar in der Alltagssprache nieder, in Ausdrücken wie „Gott sei mit dir“, „bei meiner Seele“ und „beim Blute Christi“. Geburt und Tod, Liebe und Verlust – all Ihre persönlichen Erfahrungen wären geformt und gedeutet durch diese Große Geschichte.
Aber Sie leben nicht im Mittelalter, Sie leben in der Postmoderne. Seit Hunderten von Jahren ist unserer Kultur ihre Geschichte allmählich verloren gegangen. Die Aufklärung machte Schluss mit dem Gedanken, dass es einen Autor gäbe, versuchte aber die Vorstellung festzuhalten, wir könnten trotzdem eine Große Geschichte haben, das Leben könnte trotzdem einen Sinn ergeben und alles würde in eine gute Richtung steuern. Die westliche Kultur lehnte das Mysterium und die Transzendenz des Mittelalters ab und setzte ihr Vertrauen auf Pragmatismus und Fortschritt, die Säulen der modernen Zeit, des Zeitalters der Vernunft. Doch nachdem wir uns einmal des Autors entledigt hatten, dauerte es nicht mehr lange, bis wir die Große Geschichte verloren hatten. In der postmodernen Zeit bleiben uns nur noch unsere kleinen Geschichten. Es ist nicht Pfingsten, es ist Zeit für unser Frühjahrs-Fitnessprogramm. Unsere Vorbilder sind Filmstars, und das höchste Erlebnis der Transzendenz ist die Eröffnung der Skisaison. Unsere besten Ausdrücke liegen auf der Ebene von „Schönen Tag noch“. Das Einzige, was uns noch an eine Geschichte hinter unserer eigenen erinnert, sind die Fernsehnachrichten, eine willkürliche Ansammlung von Szenen und Bildern ohne ein größeres Bild, in das sie sich einfügen. Der zentrale Glaube unserer Zeit ist, dass es keine Geschichte gibt, dass nichts zusammenhängt, dass wir nichts haben außer Bruchstücken, außer dem Durcheinander der Tage unseres Lebens. Tragödien rühren uns immer noch zu Tränen, und Heldentum erhebt immer noch unser Herz, aber eigentlich gibt es für all das keinen Kontext mehr. Das Leben ist nur eine Sequenz von Bildern und Emotionen ohne Reim und Sinn.
Was bleibt uns also übrig? Erfinden wir unsere eigene Geschichte, um unseren Erlebnissen einen gewissen Sinn zu unterlegen. Unser Herz ist dafür geschaffen, in einer Großen Geschichte zu leben; nachdem wir das verloren haben, versuchen wir das Beste aus der Situation zu machen, indem wir unsere eigenen kleineren Dramen entwickeln.
Schauen Sie sich die Dinge an, mit denen sich die Leute beschäftigen: