Sie wußte im Augenblick selbst nicht, was sie wirklich wollte. Nur eines wollte sie nicht, Peter Kilian wiedersehen! Dieser Mann konnte ihr gefährlich werden. Der Blick aus seinen himmelblauen Augen ging ihr durch Mark und Bein, und die Berührung seiner Hände ließ sie erschauern. Sie war nahe dran, sich rettungslos zu verlieben. Allein der Gedanke an ihn verursachte ihr heftiges Herzklopfen. Wie mochten seine Küsse schmecken? Wie wundervoll würden seine Zärtlichkeiten sein? Aber dann dachte sie an die Kinder, die beiden weizenblonden Buben und die süße Jenny. Sie gestand sich ein, daß sie die Kinder bereits ins Herz geschlossen hatte. Aber Liebe zu den Kindern allein genügte nicht. Es gehörte Verantwortung dazu, eine riesige Verantwortung. Wie schlimm würde es für die Kinder sein, würde sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, wenn sie versagte? Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern. Und es gab sicher nicht nur Sonntage mit Picknick und Sonnenschein, sondern auch Kummer, Ärger, Krankheiten, Probleme. Würde sie das alles bewältigen können, würde sie auch dunkle Wolken am Himmel verkraften können?
Wenn sie sich diese Dinge vor Augen hielt, konnte es nur einen Weg geben – sie durfte diese Familie nicht wiedersehen, auch wenn es schmerzte. Besser jetzt, da es noch einen Weg zurück gab.
Entschlossen blätterte sie in einem Hochglanz-Magazin und vertiefte sich in die Berichte aus der bunten und schillernden Welt der Reichen und Schönen.
*
»Papa!« Jenny tapste freudestrahlend auf Peter Kilian zu und streckte ihm ihre kleinen Ärmchen entgegen.
»Hallo, mein Schatz!« Er ließ seine Aktentasche fallen und hob seine Tochter auf den Arm. »Wie geht es meiner kleinen Prinzessin heute?« fragte er und küßte sie überschwenglich auf ihre rosigen Bäckchen.
»Sie ist so ein reizendes, liebes Kind«, schwärmte Tante Friedel und wischte sich schnell die nassen Hände an ihrer dunkelblauen Schürze ab. Aufgeregt steckte sie eine Haarnadel in den Dutt, zu dem sie ihr graues Haar geschlungen hatte. »Die Jungs sind schon oben und bereiten das Abendessen vor. Sie haben sich eine Überraschung ausgedacht.«
»So?« Peter Kilian war überrascht. »Ist doch hoffentlich eine positive Überraschung?«
»Aber ja«, beschwichtigte ihn Tante Friedel. »Sie kochen wie die Weltmeister. Es duftet auch schon ganz verführerisch, und sie haben mir felsenfest versprochen, danach auch den Abwasch zu erledigen.«
»Na, dann ist es ja gut«, erwiderte Peter Kilian beruhigt. »Da wollen wir doch gleich einmal nachschauen, was da oben los ist. Meine kleine Prinzessin ist sicher auch neugierig.« Er stieg mit Jenny auf dem Arm die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk, in dem sich ihre geräumige Wohnung befand. Schon an der Wohnungstür vernahm er geschäftiges Klappern aus der Küche.
»Hallo, ich bin schon da!« rief er aus dem Korridor.
»Oh, damit hatten wir noch gar nicht gerechnet!« rief Kai. »Aber wir sind gleich fertig. Bitte, Papa, noch nicht ins Wohnzimmer gehen, es soll eine Überraschung werden.«
»Okay, ich warte. Ich werde mich im Bad erst ein wenig frisch machen. Komm, Jenny, wir verschwinden ins Bad, damit die Überraschung nicht platzt.«
»Beeile dich mit der Soße!« trieb Kai Martin an, der emsig in einem Topf rührte.
»Fertig!« erwiderte er und füllte sie in eine Schüssel um.
Kai huschte ins Wohnzimmer. Nach einem Augenblick rief er:
»Papa, Jenny, ihr könnt jetzt kommen.«
Neugierig öffnete Peter Kilian die Wohnzimmertür und blieb auf der Schwelle stehen. »Das ist ja wirklich eine Überraschung. Habt ihr einen Vertrag mit einem Fünf-Sterne-Restaurant?«
Der Tisch im Wohnzimmer war festlich gedeckt. Auf einer cremefarbenen Damasttischdecke stand das gute Porzellan, eingedeckt nach allen Regeln der Kunst. Vier weiße Teller, Kompottschälchen, schweres Besteck, drei Saftgläser und ein Weinglas. In der Mitte brannte eine Kerze im silbernen Ständer.
Kai und Martin standen in strammer Haltung wie Oberkellner neben dem Tisch und machten eine einladende Handbewegung. Auch Jenny bekam kugelrunde Augen.
Die Jungs kicherten geschmeichelt, Martin zog einen Stuhl zurück und bedeutete, daß der Vater sich setzen sollte. Etwas irritiert ließ sich Peter Kilian nieder. Dann hob Kai Jenny auf ihr Stühlchen und zog vorsichtshalber das gute Porzellan aus ihrer Reichweite. Martin eilte in die Küche und trug eine Schüssel herein.
»Tätärätä!« trompetete er und öffnete den Deckel. »Hühnchen mit scharfer Soße und dazu große Nudeln. Als Nachtisch gibt es Karamelspeise.«
»Und das habt ihr alles allein gekocht?« fragte Peter erstaunt.
Die Jungs nickten stolz. »Ein wenig hat uns Tante Friedel bei den Vorbereitungen geholfen, aber die Nudeln haben wir allein gekocht und die Soße auch.«
»Ich bin wirklich stolz auf euch. Damit habt ihr mich wirklich überrascht. Es ist wie in einem ganz feinen Restaurant.«
»Moment, da fehlt noch etwas.« Martin sauste in die Küche und holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. In der anderen Hand hielt er ein kleines Teesieb. »Beim Öffnen habe ich den Korken zerkrümelt. Wenn du den Wein aber durch das Sieb gießt, kannst du ihn noch trinken.«
Peter schmunzelte und blickte in die Runde. »Verratet ihr mir auch den Anlaß dieses fürstlichen Essens? Meines Wissens nach hat keiner von uns Geburtstag. Oder habe ich irgend etwas verpaßt?«
»Nein, nein. Es muß ja nicht immer ein Geburtstag sein. Aber etwas sehr Wichtiges ist es schon. Doch wir sollten zuerst essen, damit es nicht kalt wird.« Kai nahm eine Kelle zur Hand und schaufelte seinem Vater einen Berg grüner Nudeln auf den Teller.
»Genug, genug, davon werde ich doch dreimal satt!« rief er lachend.
»Es ist jede Menge da«, sagte Kai. »Ich hätte nie gedacht, wieviel aus so einer ganzen Packung Nudeln im Topf wird.«
Martin kippte die rote Soße über die Nudeln und legte seinem Vater ein Stück Geflügel dazu. Neugierig kostete Peter – und rang nach Luft. Schnell griff er zum Weinglas.
»Meine Güte, das ist wirklich eine scharfe Soße«, krächzte er mit Tränen in den Augen und nahm noch einen Schluck vom Wein. »Das Rezept muß ich mir merken, wenn ihr wieder eine Mandelentzündung habt.« Aber er lachte. »Nur Jenny sollte sie nicht probieren. Soviel Saft haben wir gar nicht, um den Brand zu löschen.«
»Aber sonst schmeckt es«, meinte Martin und löffelte zuerst den Karamelpudding.
Unter viel Lachen, Prusten und Japsen vertilgten sie die Köstlichkeiten, nur von der Soße blieb etwas übrig. Aber Martin war nicht traurig und meinte, mit einem Topf voll Wasser und etwas Fleisch könnte man noch gut eine Suppe daraus kochen.
In Windeseile räumten die Kinder den Tisch wieder ab, nur die Gläser ließen sie stehen. Martin verschwand in der Küche, um abzuwaschen, und Kai gab Jenny ihr Spielzeug, damit sie sich selbst beschäftigte.
»Nun heraus mit der Sprache, was habt ihr ausgefressen?« wollte Peter Kilian wissen und blickte seinen Ältesten fragend an.
»Gar nichts, wir haben nichts getan. Zumindest weiß ich von nichts.«
»Soso. Aber es muß doch einen Grund geben, daß ihr euch heute abend besonders viel Mühe beim Abendbrot gegeben habt. Du sprachst vorhin von etwas Wichtigem?«
»Allerdings.« Kai blickte seinen Vater mit klopfendem Herzen in die Augen. Ganz so einfach war es doch nicht, ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. Vor allem wußte er nicht, wie er beginnen sollte.
»Also, Vati, ich glaube, es wird Zeit, daß wir mal ein Gespräch so von Mann zu Mann führen sollten.«
Überrascht