Von Marcello Malloni blieb nichts übrig, ausgenommen sein Zylinderhut. Und als das Tuch weggezogen wurde, war auch der Käfig leer. Na ja, fast. Nur das Goldfischglas war noch da.
Eine Panik entstand. Señora Malloni sah aus wie versteinert. Assistenten warfen das Tuch erneut über den Käfig und zogen es anschließend wieder herunter.
Bestimmt hofften sie, Marcello Malloni würde doch noch erscheinen. Aber der Käfig blieb bis auf das Goldfischglas leer. Auch in dem Zylinder steckte nichts, ganz gleich wie fest ein Kollege von der Beleuchtung ihn auch schüttelte.
Lediglich ein paar Spielkarten trudelten aus dem Zylinder zu Boden. Diese Spielkarten, liebe Leserinnen und Leser, hat Ihr Berichterstatter noch selbst in Händen gehalten und eigens für Sie untersucht. Geheimnisvolle Figuren waren darauf abgebildet. Nur das und sonst nichts war von Marcello Malloni übrig geblieben. Man schaute auch noch hinter die Klappe unter dem Käfig. Denn wie sich zeigt, haben die Verschwundenen des Herrn Malloni eher mehr mit Verstecken zu tun und weniger mit Zauberei. Was wiederum sehr schade ist.
Was bleibt, ist die Frage: Wo ist Marcello Malloni abgeblieben? Er kann sich doch nicht in Rauch aufgelöst haben! Niemand verschwindet einfach so ins Nichts! Dieser Goldfisch jedenfalls wird ihn wohl kaum verschluckt haben. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau, die allein mit einem Kind zurückbleibt.
Ich las den Zeitungsartikel mindestens zwei-, nein: drei-, nein: viermal! Mein Blick ging zu dem Zylinderhut meines Großvaters und zu den Werbeplakaten. Einfach verrückt, sich vorzustellen, dass mein Großvater ein so außergewöhnlicher und berühmter Mensch gewesen war und ich, sein Enkel, so stinknormal bin. An manchen Tagen kam sogar ich mir richtig unsichtbar vor. In der Schule behandelten mich dann alle wie Luft.
Ich wühlte weiter in der Kiste. Neben den Fotoalben lag ein Stapel alter Comic-Hefte. Ich blätterte sie durch. Sie handelten von den Abenteuern eines Wanderzirkus, die sich allesamt in einem alten Vergnügungspark namens Malloniland abspielten. Ich runzelte die Stirn. Malloniland? Wirklich ein merkwürdiger Zufall, dass der Name des Vergnügungsparks unseren Nachnamen enthielt. Etwas zu merkwürdig. Neugierig beugte ich mich wieder über die Kiste. Da lag auch ein Satz recht wunderlich aussehender Spielkarten. Ich nahm sie, mischte sie und betrachtete sie eingehend. Die Vorderseiten zeigten Zirkusfiguren: einen kleinwüchsigen Mann, ein durchgesägtes Mädchen, einen weinenden Riesen mit Regenschirm, der verrückterweise gleichzeitig auch zu lachen schien, eine Frau in Cowboykleidung mit einem Pilotenhelm auf dem Kopf und … einen Wal. Waren das etwa die Spielkarten aus dem Zeitungsbericht, die Karten, die in dem Zylinderhut zurückgeblieben waren?
Ganz unten in der Kiste lag ein Tütchen mit Papierschnipseln. Ich ließ sie mir durch die Finger rieseln. Wovon die wohl waren? Und warum nur hatte meine Großmutter sie aufgehoben?
RUMMS!, machte die Haustür wieder.
«Liebling!», rief meine Mutter mir zu. «Der Aufkäufer von Großmutters Sachen ist da. Kommst du nach unten?»
So schnell ich konnte, raffte ich alle Sachen meines Großvaters zusammen. Ich kannte jetzt meine Aufgabe: Ich musste herausbekommen, was wirklich geschehen war bei dem geheimnisvollen Verschwinden meines Großvaters, den ich nie gekannt hatte. «Das werde ich tun», sagte ich laut. «Ich werde ihn suchen. Ich werde entdecken, was mit Opa passiert ist!»
Mit meinem Arm voll Sachen rannte ich die Dachbodentreppe hinab. Fast hätte ich Großvaters Zylinderhut fallen lassen, darum setzte ich ihn mir auf den Kopf. Und dann … verschwand ich.
Ich verschwand in dem Zylinder von Marcello Malloni, dem Meister der Magischen Wunder.
Der traurige Riese
PLAUZ!
Mit einem Schlag landete ich auf einem weichen Untergrund. Was war das? Es war dunkel. Ich tastete mit den Händen umher. War das Gras?
Wie konnte es plötzlich so stockdunkel sein? Gerade noch war es Tag, und jetzt kam es mir vor wie in der Nacht.
Ich blinzelte.
Dann verstand ich: Der ziemlich große Zylinderhut meines Großvaters war mir über die Augen gerutscht. Wie wild riss ich ihn mir vom Kopf, und es war wieder Tag. Aber als ich mich umschaute, blieb mir der Mund offen. Vorhin war ich doch auf dem Dachboden gewesen, und jetzt lag ich auf einer Wiese.
Musik war zu hören, es klang wie eine Orgel. Und eine blecherne Stimme sagte:
«Dreh dich im Nu,
dreh dich immerzu.
Komm, steige schnell
ein ins Karussell.
Dreh dich im Nu,
dreh dich immerzu!
Der Eintritt ist frei.
Toni Malloni, herbei!»
Ich schluckte. Hier gab es jemanden, der meinen Namen kannte, und irgendwie war mir das unheimlich.
Wohin hatte es mich verschlagen?
Vorsichtig stand ich auf und ging ein paar Schritte. Schon bald befand ich mich vor einem mit Efeu bewachsenen Eisentor. Darüber hing schief ein Schild, das sich quietschend im Wind hin und her bewegte. MALLONILAND stand in blinkenden Leuchtbuchstaben darauf. Die meisten funktionierten aber nicht mehr. Die Pflanzen und Sträucher konnten eindeutig einen kleinen Regenschauer gebrauchen, so schlaff waren sie. In dem Baum neben dem Tor hingen jede Menge Regenschirme: Bestimmt hatte es hier länger nicht mehr geregnet.
Das Tor öffnete sich knarrend, als ich dagegendrückte. Immer auf der Hut, ging ich weiter. Da vorne stand ein Karussell. Kam die Musik vielleicht von dort her?
Als ich näher kam, sah ich, dass das Karussell schon bessere Zeiten erlebt hatte. Die Pferde brauchten einen frischen Anstrich, und manchen fehlte ein Bein oder der Schwanz.
Ich bestieg das Karussell und setzte mich auf eines der Pferde. Ich musste nachdenken. Eben war ich noch auf Großmutters Dachboden gewesen, und urplötzlich fand ich mich auf einer verlassenen Kirmes wieder. Was war geschehen? Das hier konnte doch unmöglich echt sein, oder? War es ein Traum? Ich schloss die Augen. Wenn ich sie wieder aufschlug, wäre ich sicher wieder auf Omas Dachboden. Anders konnte es doch einfach nicht sein!
Ich öffnete die Augen wieder. Kein Dachboden weit und breit.
In diesem Moment sprangen die Lichter des Karussells an, eins nach dem anderen. Langsam setzte sich das Ding in Bewegung, und aus den Lautsprechern an den Bäumen tönte ein Lied:
«Tsching-bumm-trallala.
Uns geht es gut, das ist doch fein.
Tsching-bumm-trallala,
wie schön es ist, ganz frei zu sein!
Mach nur die Augen zu und sieh,
was du am liebsten möchtest seh'n.
Tsching-bumm-trallala.
Wer