Er keckerte verlegen. »Klingt wirklich pervers. Und was heißt das?«
»Ich hätt’ jetzt Appetit auf was Süßes«, sagte ich, »und sobald ich hier raus bin, werde ich mir ein Baiser gönnen. Das ist so eine Art Schaumgebäck.«
Beim Wort Baiser hatte er die Stirn gerunzelt. Dass doch alle Bullen dieser Welt an einer Fremdwort-Phobie litten. Immerhin hatte ich die seltene Chance beim Schopfe gepackt, einem von denen zu sagen, er solle sich ins Knie ficken, es gehe ihn einen Dreck an.
Er fand das nicht besonders aufregend und winkte ab, als ich weitermachen wollte.
»Reden wir wieder wie normale Menschen«, murmelte er, »sonst lasse ich mir noch einen Frosch kommen. Denk dran, dass deine Aufenthaltsgenehmigung bald abläuft. Ich komme um eine Notiz wegen illegaler Substanzen nicht drum rum. Solltest du dir nur noch die kleinste Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, fliegst du sofort raus. Wir können hier keinen Ärger gebrauchen, weder Franzmänner mit Dope noch Leute, die mit blutigen Hemden durch die Gegend rennen. Unterschreib das hier!«
Ich unterschrieb, dass ich über meine Rechte aufgeklärt worden sei und keinerlei Ansprüche geltend machen würde, Schmerzensgeld etwa.
Wenn da gestanden hätte, dass ich absolut der Meinung sei, die Bullen dieser Stadt brauten den besten Kaffee westlich von Rom, auch darunter hätte ich meine Unterschrift gesetzt.
4
Zwei Stunden später saß ich in North Beach vor der San Francisco Brewing Company und zischte ein Alcatraz. Auf der anderen Seite der Columbus Avenue spielte die Nachmittagssonne in den Kleidern der Leute. Ich zwinkerte meinem Bier zu, und dunkel lächelte es zurück, ein Stout, schwarz wie der Schopf der Pechmarie. Linnet, die Blume unter den Mädels, die hier bedienten, war blond und guter Dinge. Sie hatte mir die Hand leicht auf die Schulter gelegt, als sie das Alcatraz brachte. Dieses Bier, benannt nach der alten Knastinsel draußen in der Bay, wo Al Capone gesessen hatte, dieses Bier kam gerade recht, meinen Ärger aufzuweichen, den Kloß im Hals. Allmählich fand ich meine Ruhe wieder.
Die Tür in der Fillmore war verschlossen gewesen. Nachdem ich lange vergeblich geklingelt und geklopft hatte, war der Nachbar aufgekreuzt. Die Lady sei von der Polizei abgeholt und wiedergebracht worden, teilte er mir mit, und dann sei sie weggefahren, allein, mit viel Gepäck. Ich solle mir keine grauen Haare wachsen lassen, hatte der Nachbar noch gemeint, ein großartiger Ratschlag, den ich ihm nie vergessen würde. Ich hatte mir dann erst mal ein frisches Hemd gekauft.
Das Alcatraz tat gut. Linnet brachte mir noch eins.
»Das ist von mir«, wisperte sie verschwörerisch, als wäre ich ihr liebster Gast. Sie mochte Mitte zwanzig sein, in ihrem schmalen Gesicht dominierten die wasserfarbenen Augen, ihr langes mittelblondes Haar trug sie meist im Nacken zu einem Knoten hochgesteckt, aus dem sich hin und wieder eine aufreizende Strähne löste. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, mit ihr auf der Golden Gate Bridge zu stehen und dem Wind dabei zuzusehen, wie er mit so einer Strähne spielte. Das war das Schicksal reizender Kellnerinnen, dass allerhand Leute sich ständig was vorstellten. Ich konnte mir auf die Schulter klopfen, meine Fantasie hatte es bislang bei der Strähne belassen.
Davon abgesehen, lebte ich in einer Erinnerung, die mir noch immer das Herz abschnürte und an die Nieren ging.
Jetzt war Happy Hour, da kostete das Bier nur die Hälfte. Wer die Messlatte fürs Glück höher legte, war selber schuld. Seit ich Linnet mal gesagt hatte, dass ihre Augen wie zwei Bergseen seien, vom Wind gekräuselt und so tief, dass jeder Nichtschwimmer in ihnen ertrinken würde, seitdem fragte sie immer, wie es mir gehe, und bedachte mich mit einem Gratisbier.
Sie hatte drinnen Mazzy Star aufgelegt, die traurigste Musik unter der Sonne Kaliforniens, oder eher unter dem Mond. Auf der Stimme der Sängerin lagen blaue Mondschatten. I’ve been let down, sang sie, and I’m still coming round. Er hatte sie verlassen. Schön für sie.
Ich tastete in meiner linken Jackentasche nach der Seide. Sie war ein Fetisch, letzte Trophäe eines Abenteuers, das ich vor fünf Jahren in Frankreich erlebt hatte, ich konnte mich nicht davon trennen. Ich hatte weder ein Foto noch eine Locke, nur dieses Fähnchen, das mir geblieben war. Das Mädchen, dem es gehört hatte, war damals spurlos verschwunden, trotz meiner Gewissheit, wir würden uns niemals verlieren. Wir hatten den Zug nach Carcassonne nehmen wollen und hatten es nicht getan. Wir hatten diesen Bahnhof, voller Übermut, durch verschiedene Ausgänge verlassen und einander verloren.
Nadia. Ich wusste wenig über sie. Wir hatten die Zeit nicht mit Fragen verbracht. Ich wusste fast nichts. Vielleicht ließ mich deshalb die Erinnerung nicht los.
Damals war ich auf den Hund gekommen, und die Zeit mit Vickie hatte daran nichts geändert, im Gegenteil. Sie hatte nichts geahnt von Nadia und war heute Morgen ausgerastet, als sie das Höschen fand. Dabei gab es keinen Anlass, eifersüchtig zu sein. Sie hatte kein Recht darauf, so wie wir zueinander standen, doch ich gab mich der Illusion nicht hin, dass sie das interessierte, da wäre sie die Erste gewesen.
Ich musste Johann finden. Ich musste Vickie finden. Ich musste an mein Geld kommen. Ich musste nachdenken.
Ich dachte über Johann nach. Ihn hatte ich gleich nach unserer Ankunft hier kennengelernt, zufällig, falls es Zufälle gab. Ich hatte rasch Vertrauen zu ihm gefasst und ihn, soweit wie nötig, in unsere Situation eingeweiht. Aus der Alten Welt geflohen, wollten wir in der Neuen nicht von ihr eingeholt werden. Er hatte uns die Wohnung in der Fillmore Street empfohlen. Ursprünglich wollten wir in eine der Bruchbuden in South of Market abtauchen, dort, wo die Stadt nachts am dunkelsten war.
»Die Wahrscheinlichkeit, in eine Razzia zu geraten«, hatte er gemeint, »ist dort, wenn man neu ist, ähnlich hoch wie die, eins auf die Mütze zu kriegen. In der Fillmore dagegen schert sich, wenn ihr es hübsch ruhig angeht, kein Schwein um euch. Dort wohnen ein paar Ex-Hippies und jede Menge Yuppies, die sich in der Reklame- und in der Computerbranche abstrampeln.« Und er hatte uns aus den Anzeigen im San Francisco Chronicle die Adresse rausgepickt. Bis heute war es eine gute Adresse gewesen.
Er wohnte, wie ich bald erfuhr, allerdings selbst in South of Market, in einem dieser Wochenhotels, vor denen er uns gewarnt hatte. Ursprünglich, weil er es von da nicht weit zu seinem Händler hatte, wie er grinsend eingestand. Später, nachdem der Dealer jäh verstorben war, aus reiner Bequemlichkeit. Denn ein Umzug war nicht unbedingt das, womit er sich mit seinen knapp sechzig Lenzen noch zu belasten gedachte. Außerdem kannten sie ihn dort, und es hieß, er habe einen Beschützer.
Seine Karriere als Buchhändler hatte er vor Jahren aufgegeben, und er verdiente seither seinen Unterhalt mit kleinen Drucksachen und Botengängen und der Vermittlung von Dienstleistungen, die so speziell waren, dass er es zu anstrengend fand, ins Detail zu gehen. Er hatte uns Pässe besorgt, saubere und prompte Arbeit, deren Wert darin bestand, die Behörden unserer Anwesenheit in diesem Lande zu einem Zeitpunkt zu versichern, zu dem wir uns noch in Europa rumgetrieben hatten. Johann würde mir helfen, Vickie wiederzufinden. Abgesehen davon, brauchte ich einen neuen Unterschlupf.
Johann aufzuspüren, war abends nicht schwierig. Wenn er nicht im Specs saß, war er im Vesuvio und nippelte stundenlang an einem kleinen Bier, es sei denn, einer gab ihm ein großes aus, ein Ereignis, das im Schnitt zweimal pro Abend eintrat. Daran hielt er sich, selbst wenn er gut bei Kasse war, um seine Selbstdisziplin zu trainieren und wegen seiner angeknacksten Gesundheit, und er hatte immer eine Schachtel ultraleichte Kent vor sich liegen.
Ich rief Linnet, um mein Alcatraz zu bezahlen. Sie nahm die Scheine und tat so, als wolle sie sich die in den Ausschnitt ihres T-Shirts schieben, stopfte sie dann aber in die Brusttasche ihrer Latzhose. Der Aufnäher fesselte meine Aufmerksamkeit. Blue Asphalt. Was für ein Markenname. Meine Fantasie ließ das Bild vom Wind und der Strähne hinter sich und begab sich tiefer.
»Ist was?«, erkundigte sie sich.
»Blauer Asphalt steht dir gut«, hörte ich mich sagen. »Auf so einer Straße bin ich noch nie gefahren.«
»Die hier ist auch noch nicht für den Verkehr freigegeben«,