Es war vor ein paar Wochen an einem Freitagnachmittag, als ich von der Arbeit nach Hause kam und mich nach draußen setzte, um ruhig zu werden und ein bisschen Zeit in Gottes Nähe zu verbringen. Ich hatte keine besonderen Erwartungen, keine schweren Gebetsanliegen, hatte auch nicht gefastet, um mich auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten. Ich saß einfach nur still da und versuchte, mich innerlich für Gott zu öffnen.
Was dann geschah, war erschreckend. Ich wurde überflutet von Gedanken an Dinge, die ich hätte erledigen sollen, E-Mails, die ich noch vor dem Wochenende beantworten musste, andere E-Mails, die ich lieber nicht so hätte wegschicken sollen und deren Inhalte ich unbedingt sofort durch weitere E-Mails korrigieren sollte. Schließlich besann ich mich auf die Technik der Ein-Minuten-Pause. Diese wenigen Sekunden halfen mir, alle Themen loszulassen. Das war in diesem Moment der einzige Ausweg für mich.
Ich hätte all das, was mir in diesen Minuten durch den Kopf schoss, unmöglich erledigen können.
Es ist ein Trugschluss, dass wir erst alles Mögliche erledigen müssen, ehe wir der Sehnsucht nach Gott, nach seinem Leben und unserer Wiederherstellung nachgeben dürfen. Es stürmt zu viel auf uns ein, wir haben einfach nicht genug Zeit, um immer alles systematisch durchzudenken und sorgfältig zu klären. Falsche Bemerkungen, irritierendes Verhalten, niederschmetternde Nachrichten – unmerklich oder auch sehr spürbar häufen sich die Lasten in unserer Seele an.
Ich habe einen Freund, der zu den Glücklichen gehört, die jetzt schon in die unsichtbare Welt schauen können, während sie noch hier in der natürlichen Welt unterwegs sind. Zu seinen besonderen Gaben gehört die Fähigkeit, die „Rucksäcke“ zu sehen, die Menschen mit sich herumschleppen. „Jeder hat einen Rucksack“, sagt er und meint damit die belastenden Dinge, die man ertragen muss. Für ihn werden seelische Lasten als Rucksack sichtbar. „Manche Leute haben größere Rucksäcke, andere kleinere“, erklärt er. „Viele Menschen tragen die Erinnerungen an Situationen mit sich herum, in denen sie sich falsch verhalten haben und die sie bedauern. Auch ihre gegenwärtigen Sorgen lasten auf ihnen, dazu die Ängste in Bezug auf die Zukunft. Manche haben nur kleine, leichte Rucksäcke, aber es gibt niemanden, der gar nichts auf seinem Rücken trägt.“
Sorgen machen einen großen Teil der Lasten aus, die uns niederdrücken. Aber auch die edel erscheinenden fürsorglichen Bemühungen um andere Menschen sind Teil der Last. Wenn wir uns über die Zukunft unserer älter werdenden Eltern Gedanken machen oder um einen kranken Freund besorgt sind, wenn wir uns für eine unterdrückte Volksgruppe einsetzen oder gegen eine juristische Ungerechtigkeit kämpfen, dann sind das alles echte, begründete Sorgen. Trotzdem sind sie in ihren Auswirkungen oft noch belastender als die üblichen Sorgen, die unsere eigenen Probleme uns bereiten.
Ein Freund von mir leitet ein Haus für Frauen, die aus der Zwangsprostitution aussteigen wollen. Letzte Woche schrieb er mir, dass die staatliche Einrichtung, die es für die jungen Frauen in seiner Stadt gibt, überfüllt sei. Er wurde gefragt, ob er elf Frauen aufnehmen könnte. Leider hatte mein Freund aber nur fünf freie Plätze und er musste sechs Frauen abweisen. Das fiel ihm sehr schwer. Ein anderer Freund von mir ist Therapeut für ehemalige Militärangehörige, die traumatisiert von ihren Einsätzen zurückkehren. Er erzählte mir, dass er einfach nicht die Kapazität hat, alle sofort zu behandeln. „Viele bringen sich um, während sie auf meiner Warteliste stehen“, klagte er. „Das setzt mir enorm zu. Ich würde so gerne mehr helfen.“
Auch diese Art von Sorgen können einen Rucksack füllen und ihn schrecklich schwer machen.
Schon vor etwa zwei Jahren begann Jesus, mir zu zeigen, wie wichtig es ist, innerlich Dinge loszulassen – und das mit der richtigen Einstellung zu tun. Egal welches Thema mich gerade beschäftigte, wenn ich mich im Gebet an Gott wandte, bekam ich immer dieselbe Antwort: Gib alles mir, alle Menschen und alle Themen. Ich war mir sicher, dass ich Gottes Stimme hörte und dass ich genau das lernen sollte.
Also begann ich, das auszuprobieren, so gut es eben ging. Doch auch weiterhin nahm ich immer wieder dieselbe Aufforderung von Jesus wahr. Nicht immer fand ich das einleuchtend. Manchmal betete ich gar nicht für andere Leute und hatte auch keine Sorgen, die ich hätte loslassen können, sondern ich betete für mein kaputtes Auto, für eine gute Reiseplanung oder einen wohlwollen Steuerbescheid vom Finanzamt.
Wofür ich auch betete, immer hörte ich in meinem Herzen denselben Satz: Gib alles mir, alle Menschen und alle Themen. Seltsam. Ob Jesus mit meinem Loslassen noch nicht zufrieden war und mir deshalb immer dasselbe sagte? Und es war ja auch so: Ich konnte einfach nicht damit aufhören, mir Sorgen um liebe Menschen zu machen und mir wegen schwieriger Themen den Kopf zu zerbrechen.
Oft sind wir viel tiefer in die Dinge dieser Welt verstrickt, als uns das bewusst ist. Dazu kommt, dass sich die Nöte der Menschen und die verschiedenen belastenden Themen ganz von alleine auf unsere Seele legen, ganz ohne unser Zutun.
Teilweise liegt das einfach an der Zeit, in der wir leben, und daran, dass viele althergebrachte soziale Ordnungen ihre Gültigkeit verloren haben.
Dank der sozialen Medien hat die Privatsphäre stark abgenommen, über Facebook, Twitter und Instagram hat jeder ständig Zutritt zum Leben anderer. Wir haben uns daran gewöhnt, dass man von überall aus jederzeit jeden beobachten, sein Tun kommentieren oder sich in sein Leben einmischen kann. Da sind viele Grenzen verloren gegangen, was zu einer wirklich ungesunden Entwicklung geführt hat.
Die Verbreitung der Smartphones hat viel dazu beigetragen. Ein Freund von mir, ein erfolgreicher Geschäftsmann, erklärte mir, dass man sich heute unter einem zuverlässigen Mitarbeiter etwas ganz anderes vorstellt als früher, vor der Zeit der Handys. „Heute wird erwartet, dass leitende Mitarbeiter immer erreichbar sind, nicht nur tagsüber, auch bei Nacht. Das ist ja auch kein Problem“, sagt er und hält sein Smartphone hoch, „jeder kann rund um die Uhr Nachrichten erhalten und angerufen werden. Das ist der Anspruch, den eine Firma heute an ihre Leute hat. Nach diesen Regeln funktioniert die Geschäftswelt.“
Als ich heute Morgen aufbrach, war ich entschlossen, in den nächsten Tagen das Handy ausgeschaltet zu lassen. Ich fuhr doch in die Wildnis, um einmal nicht erreichbar zu sein! Aber allein in der letzten Stunde habe ich mehrmals nachgeschaut, ob ich neue Nachrichten erhalten habe. Dabei fühlt es sich wirklich unpassend an, online zu sein, während ich durch diese ländliche Idylle kutschiere.
Ich fahre durch die Landschaft, in der meine Großmutter ihr ganzes Leben verbracht hat. Wenn man damals mit jemandem in Kontakt treten und etwas über seine Situation erfahren wollte, dann gab es nur eine Möglichkeit: Man musste sich auf den Weg machen und die Welt des anderen betreten, wortwörtlich. Man stieg in sein Auto, fuhr zur Farm des anderen, setzte sich zusammen auf die Veranda und unterhielt sich. Es gab bestimmte Tageszeiten, zu denen spontane Besuche möglich waren, zu anderen Zeiten kam man nicht vorbei. Jeder wusste, wann man sich gegenseitig nicht stören durfte. Ebenso waren manche Dinge Privatsache, über andere konnte man frei reden. Jeder kannte die Regeln und man hielt sich an die Grenzen.
Das ist heute nicht mehr so.
Heute denkt jeder, er könnte rund um die Uhr Kontakt aufnehmen. Damit nehmen wir der Seele die Luft zum Atmen. Wir spüren, dass uns Grenzen fehlen, Schutzräume, in denen wir für uns sein können. Platz für uns selbst, für unsere Seele.
Genau das fehlt, das brauchen wir. Wohltuenden Abstand.
Wir müssen lernen, uns innerlich immer wieder neu von allen Menschen und allen Themen zu lösen, regelmäßig zurückzutreten und Abstand zu gewinnen.
Einfach mal ausprobieren
Ich weiß genau, welche Einwände an dieser Stelle erhoben werden. „Bei mir geht das nicht, das passt nicht zu meiner Situation. Außerdem, ist das wichtigste Gebot nicht, andere Menschen zu lieben und für sie da zu sein? Es ist doch lieblos und hartherzig, sich zu distanzieren.“
Ich muss hier widersprechen. Wenn wir uns distanzieren, ist das genau richtig – weil wir nicht Gott sind. Wir können die Welt nicht retten. Wir können auch nichts dazu beitragen, dass sie sich immer weiter