Auch in der folgenden Geschichte wird das berichtet, am Anfang des Markusevangeliums. Viele begeisterte Menschen hatten Jesus umringt, um ihn herum war großer Trubel gewesen. Doch am nächsten Tag verschwand er einfach.
Früh am Morgen, als es noch völlig dunkel war, stand Jesus auf, verließ das Haus und ging an einen einsamen Ort, um dort zu beten. Simon und die, die bei ihm waren, eilten ihm nach, und als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: „Alle fragen nach dir.“ Er aber erwiderte: „Lasst uns von hier weggehen in die umliegenden Ortschaften, damit ich auch dort die Botschaft vom Reich Gottes verkünden kann; denn dazu bin ich gekommen.“ (Markus 1,32-39)
Jesus hat uns hier eine innere Freiheit und Unabhängigkeit vorgelebt, die wohl jeder von uns gerne hätte. Wie beneidenswert, dass er sich immer wieder so aus seiner Welt herauslösen konnte. Als guter Schüler meines Herrn habe ich jetzt also dasselbe versucht. Tausend Leute wollten etwas von mir – und ich bin einfach verschwunden.
Wilde Pferde kriege ich heute leider nicht zu Gesicht, dafür hätte ich vermutlich noch viel früher aufstehen müssen. Aber ich habe schon viele andere schöne Dinge gesehen. Überall am Straßenrand stehen diese Hinweistafeln, die etwas über die lokalen Besonderheiten verraten. Normalerweise rausche ich daran vorbei. Heute nicht. Ich halte an jeder einzelnen Tafel an und lese mir in Ruhe durch, welche Pflanzen und Tiere hier vorkommen und welche historischen Ereignisse mit dem jeweiligen Ort verknüpft sind.
Nein, ich bin noch nicht so ganz bei der Sache, ich habe die Hektik des Alltags noch nicht vollständig abgelegt, aber das ist nicht schlimm. Ich habe Zeit. Im Laufe der nächsten Tage werde ich bestimmt ganz eintauchen in diese herrliche Welt und unbeschwert und froh die Schönheit der Natur genießen.
Innerlich gefangen
Es ist schwerer, als ich dachte, mich innerlich freizumachen. Erst seit ich hier in dieser weiten Steppe bin und vergeblich auf die wilden Pferde warte, kehrt langsam Ruhe in meiner Seele ein. In den 24 Stunden davor hatten sich meine Gedanken noch pausenlos um eine Bemerkung gedreht, die jemand während einer Besprechung gemacht hatte.
Eigentlich war es gar nicht so böse gemeint, eher eine Beobachtung, die geteilt wurde, ein Kommentar, der im Rahmen einer großen Gesprächsrunde geäußert wurde. Aber die Beobachtung, um die es ging, bezog sich auf mich. Es wurde in diesem rund zwanzigminütigen Gespräch vieles gesagt, aber dieser eine Satz überlagerte für mich alles.
Es war wie nach einem leckeren Essen, das man schon wieder verdaut und vergessen hätte, wenn sich nicht diese eine Faser zwischen die Zähne gesetzt hätte und dort drücken und stören und die Zunge beschäftigen würde. Alle Willenskraft reicht nicht aus, um die Zunge still zu halten, ständig kehrt sie zu der Stelle zurück und versucht, die Faser aus den Zähnen herauszulösen. So etwas kann wirklich störend sein und einen von der Arbeit ablenken.
Genau das geschah in meiner Seele mit diesem einen Satz. Meine Gedanken kreisten unablässig darum und suchten nach tieferen Bedeutungen und Hintergründen, geheimen Absichten und mutmaßlichen Erklärungen. Was hatte diese Person damit gemeint? Ich nehme an, Sie kennen so etwas auch. Jemand sagt ganz beiläufig etwas zu uns, oder über uns, und wir zermartern uns das Hirn bei dem Versuch, diesen Satz zu deuten und zu bewerten.
Angenommen, wir sind auf dem Weg zu einem Termin und es zeichnet sich ab, dass wir zu spät kommen werden. Also schicken wir dem Kollegen oder Vorgesetzten eine kurze Nachricht, entschuldigen uns und erklären, warum wir uns verspäten werden. Ganz locker und freundlich, ehrlich und mit aufrichtigem Bedauern berichten wir zum Beispiel von unserem Kind, das in der Nacht plötzlich einen Infekt bekommen hat und um dessen Versorgung wir uns noch kümmern mussten, bevor wir aufbrechen konnten.
Als Reaktion erhalten wir nur zwei Buchstaben: „Ok.“ Was will der andere damit sagen? Ist er verärgert? Wahrscheinlich, sonst hätte er noch irgendetwas anderes geschrieben außer nur „Ok“. Normalerweise hätten wir etwas erwartet wie: „Oh, das tut mir leid, hoffentlich geht es der Kleinen bald wieder besser, kein Problem, wir warten auf dich.“
Vielleicht ist die andere Person auch unter Druck und hat gerade keine Zeit zum Schreiben. Mit dem einen Wort wollte sie nur schnell mitteilen, dass alles in Ordnung ist. Wer weiß? Doch unsere Gedanken drehen sich im Kreis, suchen nach Erklärungen und interpretieren alles Mögliche in das kleine „Ok“ hinein.
Ich würde mich selbst eigentlich nicht als zwanghaft bezeichnen. Aber was meine Seele aus diesem einen Satz gemacht hat, war schon verrückt. Unwillkürlich analysierte ich die gesamte Besprechung und überlegte, in welchem Zusammenhang diese eine Bemerkung gestanden hatte. Dann prüfte ich alles, was diese Person in diesem Gespräch sonst noch gesagt hatte, und in welchem Zusammenhang das jeweils geschehen war.
Bald darauf nahm ich in Gedanken alle unsere Gespräche der letzten Monate unter die Lupe, einschließlich der E-Mails, die wir uns geschrieben hatten. Wenn diese Person so über mich dachte, was hatte sie dann damals jeweils gemeint? Ich bewertete unsere ganze Beziehung in dem neuen Licht und fragte mich, ob ich vielleicht alles, was jemals zwischen uns stattgefunden hatte, falsch verstanden hatte, nicht ahnend, was die Person tatsächlich von mir hielt.
Eine einzige Bemerkung in einer Besprechung brachte meine ganze Welt rund um diese Person ins Wanken. Ich konnte nicht mehr aufhören, Motive und Hintergründe zu hinterfragen, mich als Leiter infrage zu stellen und unsere ganze Beziehung als Heuchelei zu verdächtigen.
Herr, Hilfe!
Die folgenden 24 Stunden waren vergeudete Zeit. Natürlich habe ich auch gebetet. Immer wieder bat ich Jesus, mir Frieden zu schenken und mir zu zeigen, wie ich mit der Situation umgehen soll. Aber alles, was ich von ihm wahrnehmen konnte, war nur: Lass los, gib’s mir, lass es einfach los und überlass diese Person mir. Doch genau das schaffte ich nicht. Ich war selbst überrascht, wie schwer es mir fiel, mich von dem Thema zu lösen. Je länger ich diese ganzen Überlegungen, Befürchtungen, Unsicherheiten und Ängste zuließ, desto unmöglicher erschien es mir, an etwas anderes zu denken.
Jesus half mir nicht, die Situation zu verstehen. Er bot mir auch keine Ermutigung an. Zuallererst war es nötig, dass ich aus dem Sumpf dieser Gedanken rauskam. Ich brauchte Abstand, Raum zum Atmen. Vor allem anderen brauchte ich seine Gnade; erst dann konnte ich damit anfangen, die Dinge aus Jesu Perspektive neu zu bewerten.
Als Petrus auf dem Wasser des Sees Genezareth ging und dann plötzlich zu sinken begann, zeigte Jesus ihm keine neue Perspektive auf. Er hielt nicht inne, um die Sache mal ganz in Ruhe mit Petrus zu besprechen. Jesus streckte einfach nur seine Hand aus, half seinem Jünger aus den stürmischen Wellen und begleitete ihn zurück ins Boot. Erst einmal sollte Petrus wieder zur Ruhe kommen, für das klärende Gespräch war später noch genug Zeit.
Sobald ich die ersten winzigen Schritte unternahm und anfing, den Sturm meiner Gefühle Gott anzubefehlen, ging es mir sofort besser.
Wohltuenden Abstand gewinnen
Dieses Buch soll uns dazu anleiten, Gott mehr Raum zu geben, damit sich mehr von seinem wunderbaren Wesen in uns entfalten kann und wir dadurch widerstandsfähiger und belastbarer werden. Bestimmte Verhaltensweisen wie das Einlegen von Mini-Pausen helfen uns dabei. Aber es gibt auch andere, mehr innerlich angesiedelte Möglichkeiten, um diesem Ziel näher zu kommen.
Bevor Gott unser Inneres erfüllen kann, müssen wir dort erst einmal Platz schaffen. Manchmal ist unsere Seele wie eine Krimskrams-Schublade im Küchenschrank. Ich glaube, viele Familien haben so eine Schublade in der Küche. Sie funktioniert wie ein schwarzes Loch, in dem Autoschlüssel, Stifte, Büroklammern, Gummiringe und all die nützlichen kleinen Dinge landen, die sich in einem Haushalt ständig wie Strandgut ansammeln.
Die Seele funktioniert ähnlich wie diese Schublade, auch sie zieht