Political Scholar. Alfons Söllner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfons Söllner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935481
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Konzeption der „Zivilgesellschaft“ aufgeboten wird.

      In dieser Zivilordnung „spricht zwar auch das Gesetz“21. Wenn aber dann – in gewisser Analogie zur Hegel’schen Rechtsphilosophie – die hierarchische Reihung von Familie, Korporation und Staat aufgemacht wird, so ist der Eindruck von liberalen Zugeständnissen an die moderne Entwicklung schnell wieder verflogen, zumal eindeutig konstatiert wird, dass die „Korporation par excellence“ keine andere ist als die Kirche. An dieser Stelle vermerkt Löwenthal zwar „Baaders Kampf gegen den Papalismus“, um dann aber seine politische Haltung so zusammenzufassen: „Baader ist kirchlicher und politischer Monarchist, aber eben ständischer Monarchist: nur des Hauptes und der Glieder geeinter Organismus vermag die Sozietät zu erhalten.“22 Wieder sind durch dieses ständische Element – und zwar gerade mittels seiner theologischen Bindung – weitere Ambivalenzen einer insgesamt autoritätsgebundenen Sozietätslehre signalisiert: Es gibt bei Baader so etwas wie eine gegenläufige Enthierarchisierung des Souveränitätsproblems („das Volk ist vom Regenten abhängig und der Regent vom Volk, denn ihrer beider Beziehung wurzelt, ruht bei Gott, vor dessen Stuhl sie Rechenschaft schuldig sind“), vorstellbar ist sogar ein theologisch begründetes Widerstandsrecht, das freilich in die seltsame Form einer Gleichberechtigung zwischen Herrscher und Volk gekleidet ist.23

      In ihr argumentatives Entscheidungsstadium aber tritt Löwenthals Dissertation angesichts der „sozialen Frage“. Baader hatte 1835 bekanntlich auf sie mit einer aufsehenerregenden Schrift reagiert: Über das dermalige Missverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet. Diesen umständlichen Titel kann man geradezu als Allegorie darauf verstehen, dass Baader ihre politische Brisanz einerseits erkannte, aber andererseits alles aufbot, um den Funken der Revolution im Keim zu ersticken, der von Frankreich auf Deutschland überzuspringen drohte. Die analoge Ambivalenz zeigt sich auch bei Leo Löwenthal, wenn er die Versuchung der Revolution primär dem „wildesten Despotismus, der sich unter dem Namen Liberalismus verbirgt“, zurechnet, während er den Prozess der „Säkularisation“ nur als weltgeschichtliche „Sünde“ geißeln kann. Ihn aufzuhalten, wird zur eigentlichen, zur legitimen Aufgabe der „Gegenrevolution“: „Theologie, Kirche und Proletariat werden so zu Mitteln einer Theorie und Politik, die die im Anbruch befindliche bürgerliche Gesellschaft (im modernen Sinne dieses Wortes) auf ihrem Wege aufhalten sollen. Von oben und von unten wird der Versuch zur Rückgängigmachung der Säkularisation unternommen.“24

       Jüdische Religionsphilosophie als geistesgeschichtliches „Puzzle“

      Wenn diese Lektüre von Löwenthals Dissertation zutrifft, dann war ihr auffälligster Zug die rein immanente Rekonstruktion der Baader’schen Religionsphilosophie, die sich selbst angesichts drängender zeitgeschichtlicher Probleme keinen Ausbruch aus dem restaurativen katholischen Denkgebäude gestattete. Dies ist es, was Löwenthals Baader-Lektüre nicht nur als dogmatisch, sondern als „neo-orthodox“ erscheinen lässt. Wird hier ein starkes Kontinuitätselement zu seinen religiösen Wurzeln greifbar, so bleibt das große Rätsel, warum Löwenthal sich an einem dezidiert christlichen Autor erprobte, und nicht, was viel näher gelegen hätte, an einem jüdischen Denker. Ich muss gestehen, dass ich auf diese Frage keine Antwort gefunden habe. Gab es auch nach der Herstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit noch den überkommenen Konversionsdruck, der die Taufe einst zum Entréebillet in die christliche Welt gemacht hatte (Heinrich Heine)? – oder kam es umgekehrt vielleicht sogar einer doppelten Häresie gleich, wenn ein neo-orthodoxer Jude sich auf das Terrain der christlichen Religionsphilosophie verirrte? Auffällig ist jedenfalls, dass Löwenthal weder in den Weimarer Schriften noch in seinen Erinnerungen jemals wieder auf die Baader-Studie zu sprechen kam.25

      Aber für den examinierten Studenten gab es offenbar andere Probleme zu lösen: Die Berufsfrage trat in den Vordergrund, und eine akademische Karriere schien außerhalb der Reichweite. So bleibt Löwenthal in Frankfurt und beginnt sich in der praktischen Gemeindearbeit zu engagieren. 1924 nimmt er bei der „Beratungsstelle für ostjüdische Flüchtlinge“ die Stelle eines Syndikus auf und wird damit zeitweilig hauptberuflicher Mitstreiter im Netzwerk jüdischer Sozialarbeit, das sich über das ganze Deutsche Reich erstreckte. 1926 legt er das Preußische Staatsexamen für das Gymnasium ab und arbeitet ab 1927 als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie an verschiedenen Schulen in Frankfurt. Nebenher ist er bereits für das Institut für Sozialforschung tätig. Wichtig an diesen beruflichen Arrangements ist, dass Löwenthal seinen bisherigen Freundeskreis behalten kann, dass er weiterhin intensive Kontakte zu den ehemaligen Mitgliedern des Nobel-Kreises, z. B. zu Siegfried Kracauer und Ernst Simon pflegt und dass er auch im Magnetfeld des Freien Jüdischen Lehrhauses verbleibt.

      Es war dieses jüdische Milieu, für dessen Vitalität Frankfurt in den 1920er Jahren berühmt war und in dem sich der junge Löwenthal offenbar wie der Fisch im Wasser bewegte.26 Signifikant für seine Entwicklungsmöglichkeiten als Intellektueller ist vor allem seine Vortragstätigkeit in verschiedenen jüdischen Einrichtungen, die seit Mitte der 1920er Jahre dokumentiert ist und sich schrittweise auf die gesamte Rhein-Main-Region ausweitet: So kündigt er z. B. im November/Dezember 1925 eine vierteilige Vortragsreihe im Freien Jüdischen Lehrhaus an, er referiert in der „Nassau-Loge“ und im Jüdischen Lehrhaus in Wiesbaden oder bei der „Gesellschaft Eintracht“ in Bensheim, die von Martin Buber geprägt war. Dazu gehörte auch eine begrenzte Öffentlichkeit, in der sich intellektuelle Ambitionen entfalten konnten. So publiziert Löwenthal ab 1925 im „Jüdischen Wochenblatt“ und ab 1926 im „Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde“ in Frankfurt, ab 1929 schließlich engagiert er sich in der „Volksbühne Frankfurt“ und schreibt in deren Mitteilungsblatt. In diesen Blättern wurden auch manche der Vorträge abgedruckt, bevor sie 1930 bis 1932 in der Bayrischen Israelitischen Gemeindezeitung – jetzt zur Artikelserie „Judentum und deutscher Geist“ ausgearbeitet – publiziert wurden.

      Ich muss mich im Folgenden hauptsächlich an diese Artikelserie halten, um die Frage zu diskutieren, wie Leo Löwenthal in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zur jüdischen Religionsphilosophie stand bzw. warum sich seine Einstellung zu ihr veränderte. Für die Erläuterung des letzteren, des dynamischen Gesichtspunktes ist ein früherer Maimonides-Vortrag aus dem Jahr 1925 besonders aussagekräftig, weil er in sachlicher wie zeitlicher Hinsicht einen sinnfälligen Zwischenschritt in Löwenthals Denkentwicklung markiert, nimmt er doch demonstrativ eine innerjüdisch-theologische Perspektive ein und geht dann doch darüber hinaus. Der mittelalterliche Schriftgelehrte Moses Maimonides steht, sagt Löwenthal, in mehrfacher Hinsicht für eine „glanzvolle jüdische Geschichtsepoche“: Einmal mussten die Juden sich von der arabischen Gesellschaft weder „feindselig abschließen“ noch in ihr „assimilatorisch aufgehen“, weil es eine „staatsbürgerliche Einordnung in die Mahomedaner-Herrschaft“ gab; zum andern gehörte ein Gelehrter wie Maimonides zu den „eigentlichen Übermittlern der antiken und arabischen Welt für das Mittelalter“.27

      Der tieferliegende Grund für die exponierte Stellung dieses mittelalterlichen Gelehrten hängt aber noch mit etwas anderem zusammen: Maimonides steht für den entscheidenden Punkt, an dem sich die jüdische Lehre gegenüber Philosophie und Wissenschaft zu öffnen beginnt, ja mehr noch – an dem sich das Verhältnis von Glauben und Wissen geradezu umdreht: „Nicht der Glaube steht im Zentrum des Judentums, sondern das Wissen. Nicht so sehr das passive Hören als das aktive Sehen […]. Der jüdische Gottesbegriff ist der Begriff der Vernunfterkenntnis. Seine Reinheit wird zum Prüfstein der Wahrheit.“28 Löwenthal startet von hier aus einen kurzen, aber prägnanten Assoziationsgang durch die Leitbegriffe von Maimonides’ Theologie: von der Zentralstellung des monotheistischen Gottesbegriffs über die „Nichtaussagbarkeit“ seines Wesens („Attributenlehre“) und die Kritik der wörtlichen Schriftauslegung bis hin zur Betonung der Ethik, des Gesetzesbegriffes und des damit verbundenen Anspruchs auf universelle Geltung. In nuce ist dies die Quintessenz, die aus dem berühmten „Führer des Unschlüssigen“ („More newuchim“) gezogen werden kann und die Maimonides als innerjüdischen „Aufklärer vor der Aufklärung“ erweist.29

      Doch so immanent-theologisch diese Argumentationsfolge auch dargeboten