Political Scholar. Alfons Söllner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfons Söllner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935481
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im Sinn gehabt haben. In einem sachlichen Sinn hat Adorno also recht behalten.20

       Zur Kritik der „Kritik der Gewalt“

      Wenn es zutrifft, dass theologische Spuren in Benjamins Denken und Schreiben zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einerseits allpräsent, andererseits schwer dingfest zu machen sind – wie stellt sich diese delikate Konstellation dar, wenn man nach den frühen Manifestationen dessen sucht, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte? Gibt es sie überhaupt, und wenn ja, wie fügt sie sich in Benjamins Schaffensbiographie ein? „Fernere Attraktionen in Berlin: eine kleine Klee-Ausstellung am Kurfürstendamm und ,Zur Kritik der Gewalt‘ in den Korrekturbögen“, vermeldet Benjamin seinem Freund Anfang April 1921,21 kurz bevor er in München den „Angelus Novus“ erwirbt und sich dann frohgemut nach Heidelberg aufmacht, wo er Kontakte für sein Zeitschriftenprojekt knüpft, die Möglichkeiten einer Habilitation an der Universität sondiert und sich auf das Erscheinen seines ersten größeren Aufsatzes freut. In denselben Wochen versucht er sich der Jugendfreundin Jula Cohn wieder anzunähern, eine vergebliche Liebeswerbung, die seiner Ehe zum Verhängnis werden wird, aber ihn auch zu seinem großen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften anregt, mit dem er sich, wenige Jahre später und vermittelt über Hugo von Hofmannsthal, als Literaturkritiker etablieren wird.

      Nach der Publikation seiner Schweizer Dissertation verfolgte Benjamin größere Pläne zum Thema der Politik, aber fertiggestellt wurde nur ein einziger Text, die um 1920 geschriebene „Kritik der Gewalt“. Was so ein isoliertes Stück im Gesamtwerk von Walter Benjamin geblieben ist, ragt dennoch als Solitär heraus, weil hier ein Thema aufgegriffen wurde, das in den politischen Nachkriegsturbulenzen und im Gefolge der Russischen wie der deutschen Revolution hochaktuell war, jedenfalls unmittelbar politisch verstanden werden konnte. Das war vielleicht auch der einzige Grund, weshalb der Aufsatz im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ zur Publikation angenommen wurde, immerhin eines der Hauptorgane der deutschen Sozialwissenschaft, das u.a. von Max Weber redigiert worden war.22 Wenn man sich nämlich in die etwas mehr als 20 Seiten hineinliest, die der Text in der Gesamtausgabe umfasst, so kann man nur erstaunt sein: einerseits wie schematisch und hochabstrakt Benjamins Argumentation daherkommt, andererseits wie dunkel oder sogar mystifizierend der Assoziationshorizont sich gestaltet, in den sie eingelassen ist.

      Hier ist sie wieder, die bereits angedeutete Konstellation von Kritizismus und Mystifizierung, von Neukantianismus und spekulativer Geschichtsphilosophie, die jetzt aber eine bemerkenswerte Konkretisierung erfährt. Benjamin geht aus von der Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit und korreliert sie mit der noch abstrakteren Unterscheidung von Zweck und Mittel. Nachdem er die beiden maßgeblichen Denktraditionen der Rechtstheorie – das Naturrecht einerseits, den Rechtspositivismus andererseits – zwar angesprochen, aber gleich wieder verworfen hat, stellt er die Generalthese auf, dass alle menschengesetzte Rechtsordnung, die moderne vernunftbegründete eingeschlossen, aus einer Gewaltsetzung hervorgegangen ist, ja hervorgehen muss; denn selbst der Versuch, ein Äquilibrium zwischen legalen Mitteln und gerechten Zwecken herzustellen, hat noch denselben gewaltförmigen Ursprung. Unter dieser Prämisse stehen alle weiteren Differenzierungen, sowohl die funktionalen (wie Rechtssetzung und Rechtserhaltung) als auch die institutionellen (wie Polizei und Strafe, Kriegsrecht und Todesstrafe). Sie alle sind von Grund auf gewaltkontaminiert, verdorben, ja sündhaft – oder wie Benjamin generalisiert: Sie sind „mythischen Ursprungs“.23

      Dieser vom „Mythos“ umklammerten Kasuistik kleiner Antithesen tritt nun ein ganz anderes Ordnungsprinzip als große Antithese gegenüber, nämlich die „göttliche Gerechtigkeit“. Auch sie wird nicht als gewaltlos vorgestellt, vielmehr ist sie durch eine andere Form der Gewalt definiert, die sowohl gegenüber dem Recht wie gegenüber jeder Rechtfertigung frei und gerade dadurch „rein“ und „gerecht“ ist. Die göttliche Gerechtigkeit ist „heilig“, sie hat ihren Ursprung in der „reinen Gewalt“ und ist „rein“ vor allem deswegen, weil sie dem Zweck-Mittel-Schema insgesamt entzogen ist. Dieses wiederum steht für die Verstrickung in einen tragischen Schuldzusammenhang, von dem die menschliche Geschichte insgesamt durchwirkt ist und an dem jeder Versuch einer Versöhnung durch Recht abprallt. An dieser Stelle wird unübersehbar, dass hinter den rechtstheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin eine tragische Geschichtsmetaphysik steht. Wenn als der „Ursprung“ aller Rechtsverhältnisse wie der Geschichtsentwicklung insgesamt der Mythos erscheint, so wird dieser Konstruktion zwar durch die „göttliche Gerechtigkeit“ entgegengearbeitet, beide aber sind gewaltförmig und unterscheiden sich lediglich darin, dass die eine an das Zweck-Mittel-Schema gebunden bleibt, während die andere „reine Manifestation“, „grundlose Willensäußerung“ ist. 24

      Den Aufriss dieser „Kritik der Gewalt“ so dichotomisch, als pures Nebeneinander von immanenter und transzendenter Kritik stehen zu lassen, wäre freilich nicht vollständig25; denn Benjamin kennt sehr wohl gewisse Übergänge, die in der Mitte des Textes eingeführt werden, jetzt auch konkreter Bezug auf die politische Gegenwart nehmen. Während die „gewaltlose Beilegung von Konflikten“, wie sie in der „Kultur des Herzens“, in der „Technik ziviler Übereinkunft“ oder ganz allgemein in der Sprache als der „eigentlichen Sphäre der Verständigung“ nur nebenher erwähnt werden, tritt ins Zentrum der „revolutionäre Generalstreik“. Er wird vom „normalen“, d. h. dem der Zweck-Mittel-Logik der Interessensvertretung unterworfenen Gewerkschaftskampf scharf unterschieden – einmal durch die radikale Lahmlegung sämtlicher Produktions- und Reproduktionsmechanismen und die Herbeiführung des gesellschaftlichen „Ausnahmezustandes“, zum andern dadurch, dass er auf die „Vernichtung der Staatsgewalt“ zielt, d. h. auf die Aufhebung jener Institution, in der sich die Gewaltförmigkeit des Rechts konzentriert.26

      Den Begriff des Generalstreiks ebenso wie dessen emphatische Hervorhebung übernimmt Benjamin bekanntlich von Georges Sorel und fügt sie zunächst wenig modifiziert in seine eigene Begriffswelt ein. Im Verlauf seiner Deduktion aber, und besonders an ihrem Ende erhält er, in Gestalt des „revolutionären Umsturzes“, etwas von jenen Attributen zugesprochen, die eigentlich nur in der Sphäre der „göttlichen Gewalt“ zu Hause sind. Es ist, schreibt Benjamin, die „revolutionäre Gewalt, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist“, die also eine Art irdischer Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit ist oder jedenfalls am ehesten als Schritt zu deren Verwirklichung aufgefasst wird.27

      Mit welchem Recht, möchte man fragen? Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die damit gegebene Konkretisierung der geschichtsphilosophischen Grundlagen bei Benjamin mehr angedeutet als wirklich ausgeführt ist, dürfte ein Urteil wie das folgende nicht zu streng sein: Diese „Analyse“ des Problems von Recht und Gewalt ist wenig diskursiv und macht sich einer politischen Haltung schuldig, die man als voluntaristisch oder gar als dezisionistisch bezeichnen muss, sie ist durchzogen von suggestiven Gedankenblitzen und extremen Formulierungen, die eine gewisse Schockwirkung hatten, wenn nicht sogar intendierten, ansonsten aber in der zeitgenössischen Debatte nicht aufgenommen wurden. Benjamins Beitrag zu einer rationalen Aufklärung der ganz erheblichen politischen Probleme am Anfang der Weimarer Republik war offensichtlich gering, er verwies weder auf rechtspolitische Alternativen noch zeigte er sich besorgt um die Zukunft der deutschen Demokratie.

      Noch zwielichtiger erscheint die „Kritik der Gewalt“, wenn man sich vergegenwärtigt, worauf der so hoch gehängte Anspruch auf eine „philosophische“ Kritik in theoretischer Hinsicht hinausläuft – ziemlich genau auf das Gegenteil dessen, was die Anspielung auf Kant suggeriert: nicht die Zurückführung auf Vernunftpostulate und eine strenge Form der logischen Deduktion, sondern Rekurs auf mythische und theologische Ursprungsmächte – unter souveräner Missachtung der historischen Umstände und der politischen Aktualitäten, die in Deutschland auf die Chancen (und die Schwierigkeiten) einer demokratischen und sozialen Neuordnung lauteten. Vor allem fehlt jedes Gespür für die Voraussetzungen und die Möglichkeiten einer gesellschaftskritischen Durchdringung der Problematik von Recht und Gewalt. In dieser „Kritik der Gewalt“ steckt nichts weniger als ein gerüttelt Maß an politischem Irrationalismus, der sich in einer pessimistischen Geschichtsmetaphysik genüsslich eingerichtet hat. Ihre spezifische Einbettung in religionsphilosophische oder theologische Traditionen hat dieses Defizit