»Gehaben Sie sich wohl!«, sagte er noch einmal.
In der Tür begegnete er dem Assistenzarzt und ging mit den Worten: »Sie haben eine arbeitsreiche Zeit vor sich, Doktor«, vorbei.
Auch Schmitt zog den Mantel an, nahm seine Sanitätstasche und sein geringes Gepäck und entfernte sich wortlos in Richtung zur Verwundetensammelstelle, vor der sich eine Reihe von Sankas staute.
»Damit wäre die Skatpartie geplatzt«, sagte Leutnant Göbel. »Sieht beinah so aus, als ob wir bald an die Reihe kämen.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als der Melder herantrabte, den ich zu Oberst Kern abgestellt hatte. »Herr Leutnant«, rief er mir zu, »Herr Leutnant, Befehl von Herrn Oberst: die Kompanie soll am Westufer einen Streifen besetzen zur Aufnahme der Nachhut.«
Ich verabschiedete mich kurz von dem Hauptmann und dem Leutnant und folgte dem Melder zum Fluss. Die Kompanie sei bereits alarmiert, berichtete er. Die Nachhut liege im Kampf mit russischen Reiterspitzen. Der Donübergang müsse solange als möglich gehalten werden.
Ich wusste, es war ein Himmelfahrtskommando, das man uns aufgehalst hatte. Während Hunderte sich verkrümelten, hatte meine Kompanie wieder einmal den Schwarzen Peter gezogen.
Aber dann kam es doch anders. Die Ereignisse überstürzten sich. Oberst Kerns »Heldenfalle« war geplatzt. Die Mehrzahl der von ihm aufgefangenen zersplitterten Haufen zerstob in dem zunehmenden feindlichen Feuer wie der Schnee, den der Wind vor sich hertrieb.
Wir betraten die Brücke, aber wir gelangten nicht mehr hinüber aufs westliche Ufer. Die abgekämpfte, hart mitgenommene Nachhut drängte uns schon entgegen. Sanitäter führten Verwundete oder schleppten sie auf Tragen. Drüben feuerten russische MG und Granatwerfer, und hinter uns schrie jemand: »Brücke freimachen zur Sprengung!«
Wir gingen zurück, setzten uns in Granattrichtern fest und gaben den Letzten der Nachhut Feuerschutz, während Pioniere unter dem Befehl von Leutnant Göbel die Sprengung vorbereiteten.
Etliche Rotarmisten erschienen ein Stück flussaufwärts auf dem Eis, offensichtlich mit der Absicht, die Brücke unversehrt in Besitz zu nehmen. Die Eisdecke, die noch dünn war, brach, und die im Wasser treibenden Russen gerieten ins Feuer unserer MG.
Am Ufer erschien der alte Oberst Kern. Tobend trieb er die Pioniere an. Aber auch mit seinem Gebrüll konnte er die Sprengladung nicht zum Hochgehen bringen. Die Zündschnüre wollten nicht glimmen. Schließlich versuchten es Leutnant Göbel und seine Pioniere mit Handgranaten. Der Belag der Brücke wurde zwar beschädigt, doch als Ganzes hielt sie stand.
Unterdessen nahm die russische Artillerie, die kurze Zeit geschwiegen hatte, ihr Feuer wieder auf. Als die ersten feindlichen Stoßtrupps auf der Brücke erschienen, zerplatzten Granaten in ihren Reihen. Verwirrung entstand. Der Feind wich zurück. Und plötzlich flog die Brücke unter einer gewaltigen Detonation in die Luft.
Ich erhielt Befehl, mich vom Ufer abzusetzen. In dem Dorf, in dem Oberst Kern alle kampffähigen Kräfte hatte versammeln wollen, schlugen Granaten von schwerem Kaliber ein.
In dichtem Schneetreiben formierten sich Marschkolonnen, die alle nach Südosten strebten. Ich fragte mich, ob der Einzelne sich wohl bewusst sein mochte, dass ihn jeder seiner eiligen Schritte weiter von seiner Basis forttrug, die nicht im Osten, sondern im Westen lag, jenseits des Don, den wir preisgegeben hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass der Russe die Initiative ergriffen hatte, wenn er zunächst auch seine Trümpfe nur zögernd ausspielte, vielleicht weil er es noch nicht gewohnt war, zu siegen.
Wir marschierten, ohne anzuhalten, den ganzen Tag. Unser kleiner Tross, dem sich Unteroffizier Kurz mit seinem Panzer angeschlossen hatte, befand sich mit einigem Vorsprung voraus. Erst am Abend, als wir das von Oberst Kern befohlene Ziel erreichten, einen Kolchos, der bei den Kämpfen im Frühherbst halb zerstört worden war, trafen wir mit ihnen zusammen. Sie hatten unterwegs alles Mögliche aufgeladen, was andere als überflüssigen Ballast weggeworfen hatten.
Unser Melder, der beim Stab des Obersten geblieben war, holte mich zur Offiziersbesprechung, die im längst verlassenen Wohnhaus des Kolchosverwalters anberaumt war.
Die Stube, in der sich ein Dutzend Offiziere, darunter Rittmeister Graf Lerchenau, Hauptmann Spengler und Leutnant Göbel, um Oberst Kern drängte, war geheizt. Ich legte den Mantel und den Kopfschützer ab und rieb mir beim Ofen die frostklammen Hände, nachdem ich mich gemeldet hatte.
Der Oberst verteilte mehrere Packungen Zigaretten und forderte jeden von uns auf, sich zu bedienen. »Meine Herren«, begann er mit seiner tiefen, rauen Stimme, die buschigen grauen Augenbrauen finster zusammengezogen, »was heute am Don geschehen ist, war durchaus programmwidrig, aber unvermeidlich. Wir hätten mit dem, was uns zur Verfügung stand, den Donübergang nicht halten können. Wichtiger erscheint es mir zur Stunde, der Armee für die bevorstehende Aufgabe möglichst viel Kampfkraft zuzuführen. Mit Lumpenzeug lässt sich kein Durchbruch erzwingen. Und um einen Durchbruch wird es sich handeln, meine Herren, da der Russe seinen Riegel zweifellos mit allem, was er heranschaffen kann, verstärken wird. Der Gedanke der Armeeführung, alles auf engem Raum zusammenzuziehen, anstatt ihre Schlagkraft in Einzelaktionen zu verzetteln, war wohl bei Betrachtung der Gesamtlage die einzig richtige Folgerung. Einige von Ihnen, meine Herren, sind bei mir vorstellig geworden, und ich kann Ihren Wunsch begreifen, sich Ihren Verbänden wieder einzugliedern. Aber zu meinem Bedauern kann ich solchen Wünschen nicht stattgeben. Aufgrund der Vollmachten, die mir die Armee erteilt hat, habe ich die Befugnis, alle geeigneten Einheiten zu einer Kampfgruppe zusammenzufassen, die in nächster Zeit ihre Befehle direkt vom Armeeoberkommando empfangen wird. Die Lage ist außergewöhnlich und erfordert besondere Maßnahmen. Ich denke, wir verstehen uns.«
»Nicht ganz, Herr Oberst«, warf Rittmeister von Lerchenau ein. »Ich habe mit meiner Abteilung Befehle auszuführen, die ich von meiner Division erhalten habe. Ich bin von Herrn Oberst angehalten worden und muss jetzt nach dem Zeitverlust, der mir bereits entstanden ist, darauf bestehen, unverzüglich mit meiner Division Verbindung aufzunehmen.«
»Wissen Sie, wo Ihre Division steht?«, fragte Oberst Kern.
»Nein, aber das lässt sich in Erfahrung bringen«, versetzte der Rittmeister und klemmte ein Monokel vors rechte Auge.
Der Oberst lachte trocken auf.
»Sie verkennen die Lage, mein Bester.«
»Absolut nicht, Herr Oberst«, entgegnete der Rittmeister in gereiztem Ton. »Die Führung hat das, was jetzt eingetreten ist, selbst verschuldet. Ich weigere mich, meine Abteilung, die im Divisionsverband wichtige Aufgaben zu erfüllen hat, in einer willkürlich zusammengewürfelten so genannten Kampfgruppe verheizen zu lassen.«
Das vom Frost gerötete, zerfurchte Gesicht des Obersten blieb unbewegt. Nur in den schmal gekniffenen hellen Augen glimmte ein Ausdruck zorniger Entrüstung auf. Ich erwartete, dass sich ein Donnerwetter über dem Haupt des Rittmeisters entladen würde. Doch völlig ruhig sagte Oberst Kern: »Sie kennen meine Befehle, Rittmeister Graf Lerchenau. Ich erwarte, dass sie ausgeführt werden. Kritik ist unangebracht und würdelos. Wir haben uns mit dem abzufinden, was über die Armee hereingebrochen ist. Auch Sie, Herr Rittmeister. Unsere Aufgabe ist es nicht, Schuldige zu suchen! Ich hoffe, Sie haben mich jetzt verstanden.«
Der Rittmeister verneigte sich stumm, nahm sein Einglas ab und zündete sich eine Zigarette an. Im Stillen musste ich ihm Recht geben. Die in Notzeiten aufgestellten Kampfgruppen hatten häufig einen recht zweifelhaften Wert und wurden nicht selten schon beim ersten Einsatz aufgerieben. Aber Oberst Kern wusste sicherlich mehr als wir und machte im Übrigen nicht den Eindruck eines sturen Befehlsempfängers. Ich bedauerte ihn, ohne mir recht darüber klar zu sein, weshalb.
Wir kehrten zu unseren Einheiten zurück, die sich in den noch stehenden Gebäuden des Kolchos für die Nacht eingerichtet hatten.
Feldwebel Stamm reichte mir ein Kochgeschirr mit einer dünnen Suppe, die er bei der Feldküche für mich gefasst hatte.