»Feine Verbündete haben wir uns da ausgesucht«, meinte Feldwebel Stamm, aber jetzt lachte auch er, denn im Dorf schlug es mehrmals ein, und der Rumäne ließ den Zügel los und setzte sich zu Fuß in Trab.
Das störrische Pferd sprang an und raste im Galopp durchs Dorf. Vermutlich endete es später in einem Kochkessel, wenn es nicht von den Russen eingefangen oder von Granaten zerfetzt wurde.
Von Feldwebel Stamm begleitet, ging ich in mein Quartier.
Eine alte Babuschka, mit geröteten Triefaugen und grauem Bartanflug auf der Oberlippe und am Kinn, hauste als einziges Überbleibsel der längst abgewanderten russischen Bevölkerung in einem Verschlag der baufälligen Lehmhütte. Sie lebte von dem, was die Feldküche ihr abgab.
Als ich mir die Stiefel von den eiskalten Füßen streifte, brachte sie »Tschai«, wässrigen Tee, den sie immer für mich bereit hatte.
»Germanski kaputt«, sagte sie mit ihrer brüchigen Stimme und kicherte in sich hinein.
»Wie kommst du darauf, Babuschka?«, fragte ich in meinem unbeholfenen Russisch.
Die Alte schüttelte den Kopf und tappte hinaus. Feldwebel Stamm, der in gewissen Dingen keinen Spaß verstand, starrte ihr zornig nach.
»Alte Vettel«, knurrte er. »Germanski kaputt – das wäre noch schöner!«
Stamm glaubte immer noch an unsere Überlegenheit. Rückschläge nahm er hin wie einen Regenguss. »Stamm«, sagte ich, »hören Sie zu! Es sieht mulmig aus. Bei Kletzkaja ist der Russe durch. Wie tief, weiß offenbar niemand. Und nach den neuesten Parolen scheint er auch an der Südflanke ekelhaft zu drücken. Wir haben allerhand zu erwarten für die nächsten Stunden und Tage. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir die längste Zeit hier gewesen. Von einem Marschbefehl ist zwar noch nicht die Rede, aber manchmal ist es der Russe, der für Bewegung sorgt.«
»Gegen Luftveränderung hätte ich nichts einzuwenden, Herr Leutnant«, meinte Stamm, der offenbar die Tragweite meiner Worte nicht begreifen wollte. »Lieber in Stalingrad, als hinter der Rumänenfront versauern.«
»Ihr Wunsch könnte möglicherweise in Erfüllung gehen«, antwortete ich, ohne mir über das, was ich sagte, klar zu sein. Falls es zum Rückzug kommen sollte, würden wir, wie ich annahm, zweifellos nach Westen und nicht nach Osten ausweichen. Wenn es ums Leben geht, wählen nur Narren den Tod. Aber schon sollte ich einsehen, welche Narrheit unserer Kriegführung zu Grunde lag.
Der Russe durchgebrochen. Diese Tatsache störte mich zunächst nicht sonderlich. Angst, Furcht? Nicht einmal im Trommelfeuer! Wir waren ausgeglüht. Reif für die Prüfung, die uns in Stalingrad erwarten sollte.
Ich nahm das Ganze leicht. Für meine Kompanie konnte ich einstehen. Wir waren mit jeder Lage fertig geworden. Angriff – Verteidigung, alles eins. Wir hatten es immer geschafft, und ich war sicher, dass wir auch diesmal nicht versagen würden. Wir waren nur eine Infanteriekompanie mit vermindertem Mannschaftsbestand. Aber wir hatten längst erfahren, dass auch der Feind nur mit Wasser kochte, und unsere Ausrüstung war weit besser, als es planmäßig vorgesehen war. Jede Gruppe besaß zwei IMG, sogar der Kompanietrupp. Im Übrigen besaßen wir eine überzählige Pak, die Feldwebel Stamm Anfang November organisiert hatte, als wir zum ersten Mal mit einem Überraschungsangriff rechneten.
Als daher zwei Russenpanzer am Abend dieses bemerkenswerten 19. November auf unser Dorf zurollten, gab es nur einen kurzen Feuerzauber, zwei heftige Explosionen und dann nichts mehr außer dem Brandschein der zerborstenen Wracks.
Die Nacht hindurch drosch russische Artillerie zeitweilig auf unser Dorf. Es war Munitionsvergeudung, denn in den Hütten, die einstürzten oder abbrannten, hielt sich niemand auf.
Um zwei Uhr morgens, nachdem wir einen stärkeren feindlichen Stoßtrupp abgewiesen hatten, rief ich den Bataillonsstab an, um den Abwehrerfolg zu melden. Aber ich erhielt keine Antwort. Die Leitung war tot.
Ich versuchte, die Nachbarkompanie und die Haubitzbatterie zu erreichen, die auf Zusammenarbeit mit uns angewiesen waren. Das Ergebnis war das Gleiche.
Ich schickte Störungssucher nach Süden und Westen aus. Einer der beiden Trupps kehrte kurz nach vier Uhr zurück. Sie waren unterwegs mit russischen Reitern zusammengetroffen. Die Finsternis der nebelverhüllten Herbstnacht hatte sie gerettet.
Die drei Mann, die der Strippe nach Westen gefolgt waren, ließen auf sich warten.
Etwas Unheimliches bahnte sich an. Auch Feldwebel Stamm schien es zu spüren. Als er gegen fünf Uhr von einem Gang durch die Stellungen in den Gefechtsstand zurückkam, murmelte er: »Jetzt fängt es auch noch an zu schneien. Wer weiß, was da noch draus werden soll, Herr Leutnant?« Nach einer Pause, während er den schweren, nassen Schnee von seinem Mantel abklopfte, fügte er hinzu: »Ich glaub, die haben uns vergessen. Die sind abgerückt und haben uns vergessen.«
»Unsinn«, widersprach ich, »der Russe ist durch und hat die Fernsprechleitungen zerschnitten. Oder er hat sie mit seiner Ari zerstört. Hat zeitweilig ganz schön gerummst heut Nacht.«
Seit einer Stunde saß der Funker an seinem Kasten. Aber auf unserer Frequenz rührte sich nichts. Dagegen war beim Russen ein toller Funkbetrieb im Gang, ein Zeichen, dass er das, was er bisher erreicht hatte, mit allen Mitteln weiter vorantrieb.
Seltsam war nur, dass wir bis auf den Besuch der beiden Panzer, die längst ausgebrannt waren, und den Angriff des Stoßtrupps unbehelligt geblieben waren. Die einzige Erklärung, die ich dafür fand, war die, dass wir außerhalb der feindlichen Stoßrichtung lagen, sozusagen im Windschatten, was allerdings nicht bedeutete, dass die Ruhe anhalten würde. Auch wir hatten beim Vormarsch immer wieder Stützpunkte des Feindes ausgespart, die dann von nachfolgenden Verbänden ausgehoben wurden. Zudem sah auch der Russe in der Dunkelheit nicht mehr als wir. Wenn es Tag wurde, sagte ich mir, würden wir auf manche Frage Antwort erhalten. Es war nur höchst ungewiss, ob uns die Antwort gefiel. Ich schlüpfte in den Mantel, nahm Stahlhelm und Maschinenpistole und ging hinaus. Der Schnee fiel so dicht, dass man trotz der ungewissen fahlen Helle, die von der weißen Hülle ausging, kaum die Hand vor Augen sah.
Der Flockenfall schien wie Watte, die vom Himmel niedersank, um das Rumpeln des Geschützfeuers zu dämpfen. Oder war es schon so weit entfernt? Lag unser armseliges Dorf schon im Hinterland des durchgebrochenen Feindes?
Ein Posten trat mir in den Weg. »Halt! Parole?«
»Krautacker«, sagte ich. »Leutnant Lemke. Ist milder geworden, was?«
»Milder schon, Herr Leutnant«, gab der Soldat zurück; »aber da sitzt doch der Wurm drin. Da ist doch was faul, Herr Leutnant.«
»Oberfaul«, bestätigte ich, weil ich es nicht schätzte, meinen Leuten etwas vorzumachen. »Stinkt ganz gewaltig, Peters. Weiß nur nicht, wo und was. Wird sich schon herausstellen, wenn es erst mal hell wird. Meinen Sie nicht auch?«
»Klar, Herr Leutnant«, antwortete der Schütze Peters, der seit vier Uhr auf Wache war und sichtlich fror, obgleich die Kälte spürbar nachgelassen hatte. Ich ging durch das stille, im Schnee versinkende Dorf bis zu den Stellungen, die halbkreisförmig nach Norden hin angelegt waren.
Im Vorfeld standen die beiden ausgebrannten Panzer schemenhaft im rieselnden Weiß.
Ich sprach mit den Leuten, die in den MG-Ständen und Grabenstücken Wache hielten. Alle wollten wissen, ob es etwas Neues gebe. Die Auskunft, die ich ihnen geben musste, war nicht ermutigend.
»Reichlich bescheiden«, meinte Unteroffizier Vollrath, der den ersten Zug führte, seitdem Feldwebel Kling durch Verwundung ausgeschieden war.
Ich kehrte ins Dorf zurück. Der Schnee lag schon fast kniehoch, und es schneite unaufhörlich weiter. Als ich in die Nähe des Gefechtsstandes kam, blieb ich stehen, denn mir war, als nähere sich von Südosten aus der Steppe ein Motorfahrzeug.
Es war ein Krad, das fast im Schrittempo schlitternd durch den tiefen Schnee heranpuckerte. Der Fahrer streckte die Füße aus, um die Maschine im Gleichgewicht zu halten. Es war einer der Melder des Bataillonsstabes.
»Befehl