Ich muss Brenner noch eine Schachtel Zigaretten schenken, geht es Hanke durch den Kopf. Ich habe es ganz vergessen.
Feldwebel Semmler sagt eine Kurskorrektur durch. Hanke nickt, dreht die Ju in die neue Richtung und geht tiefer. In fünf Minuten muss das Ziel auftauchen. Nur im Tiefflug kann man den Feind überraschen. Man muss wie der Blitz auftauchen, das Erschrecken des Feindes ausnützen, das kurze Zögern, und dann zuschlagen. Wo ist das genaue Ziel?
Da! Flak schießt! Dort muss also was los sein!
Noch tiefer drückt Hanke die Maschine. Kaum fünfzig Meter über dem Boden jagt der riesige Bleistift auf die blitzenden Mündungsfeuer leichter Flak zu. Emmes schießt bereits, was das MG hergibt. Hanke späht durch das Visier und versucht, etwas auszumachen. Erst mal ein Anflug!
Wie tückische Kobolde zischen die Leuchtspurgeschosse heran, vorbei, links und rechts vorbei. Von allen Seiten wird jetzt geschossen. Hanke erkennt jetzt die getarnte Werfthalle und ein paar abgestellte Feindmaschinen. Etwas weiter dahinter wölbt sich etwas aus der Erde hoch. Von dorther schlägt ihm besonders wütendes Abwehrfeuer entgegen. Das muss also das Spritlager sein!
Hanke zieht die Ju hoch, kurvt nach links, steigt weiter. Dann jagt die Maschine in einem großen Bogen zurück und legt sich erneut in die Kurve.
»Achtung! Ich stürze!«, ruft Hanke der Besatzung zu.
Der entscheidende Moment. Der Boden rast auf die Maschine zu, unheimlich schnell wächst alles, wird überdimensional. Auf den Ohren der Flieger lastet ein dumpfer Druck. Man ist versucht, die Augen zu schließen, doch man reißt sie auf, man muss das Ziel im Auge behalten!
Hanke visiert die Werfthalle an. Menschen rennen davon. Von irgendwo spritzt und blitzt das Feuer der Flak. Die Bombe fällt.
Fast unmittelbar darauf rüttelt eine Riesenfaust an der steil hochziehenden Ju. Sie hinterlässt Tod und Vernichtung. Trümmer fliegen durcheinander, Rauch quillt hoch. Das Getöse der Bombenexplosion mischt sich mit dem Jaulen der davonjagenden Maschine.
»Treffer!«
Wie ein Teufel hockt Hanke hinter dem Steuer. Noch einmal legt er die Ju in eine Steilkurve, fliegt zum zweiten Mal an. In diesen Sekunden ist Hanke kein Mensch mehr, in diesen kurzen Augenblicken ist er ein Satan; der kleine, schmale Leutnant mit dem melancholischen Blick verwandelt sich in einen grinsenden Dämon.
Jetzt ist das Treibstofflager dran. Todesmutig feuert die auf einem Hügel postierte Flak. In den Tragflächen splittert es, platzen winzige Löcher auf. Doch die Ju fliegt, schießt im Sturzflug auf das Ziel zu. Die Bombe löst sich, heult hinab und detoniert mit höllischer Wucht, fetzt die Erde auseinander, durchschägt den Riesentank.
Im Hochziehen wirft Hanke einen Blick zur Seite hinab. Eine rußige, feurige Wolke spritzt empor. Ein ohrenbetäubender Krach, dann steigt eine lodernd brennende Wolke auf. Fetter, schwarzer Qualm wälzt sich gegen den Himmel. Das Spritlager brennt. Von irgendwoher speit noch eine Flak Feuer auf die höher und höher ziehende Ju, aber es erreicht sie nicht mehr.
Während tief unten die Vernichtung wütet, glänzen Schweißperlen auf Hankes Gesicht, und das starre Grinsen lockert sich.
»Hat hingehauen, was?«
»Ganz prima«, nickt Feldwebel Semmler.
Hanke zieht seine Maschine höher und höher, steuert in eine lichte Wolke hinein …
Das war eine Freude! Rudolf Brechtmann ist restlos glücklich. Die neuen Kameraden sind prima Kerle, vom Alten angefangen bis zum einfachen Flieger. Auch mit dem Bodenpersonal ist Rudolf gleich auf Tuchfühlung gegangen. Man mag den gutaussehenden Leutnant, der die Maschine des verwundeten Vorgängers fliegt.
»Der kann was«, sagte der Staffelkapitän anerkennend, als Rudolf seine ersten Runden drehte und unten alles nach oben schaute. »Äh, wie heißt er gleich?«
»Leutnant Rudolf Brechtmann«, erinnerte der Oberleutnant.
Das war vor drei Tagen gewesen. Gleich nach dem Probefliegen war Rudolf zum Kampfgeschwader gefahren, um mit Hanke zusammenzutreffen. Auch diese Stunden waren heiter gewesen. Zwei gute Freunde hatten sich wiedergetroffen. Das trug noch mehr dazu bei, sich wohl zu fühlen und in einen Taumel des Glücks zu geraten.
Heute also war Rudolf auf seinen ersten Feindflug gegangen, »auf die Reise«, wie der Kommodore zu sagen pflegte.
Der Tag hatte vielversprechend hell begonnen. Es war eine Lust, in der Sonne zu fliegen – für Rudolf wenigstens. Er flog im Verband, links und rechts die neuen Kameraden, mit denen man rasch eins geworden war.
Unter Fliegern geht das besonders schnell: Man schaut sich in die Augen, man reicht sich die Hand, man spürt an dem Druck, wen man vor sich hat, und man weiß es genau, wenn der »Neuling« seine fünf Minuten Probeflug hinter sich hat und aus der Kiste steigt.
Fast gleichzeitig mit dem Start des Bombergeschwaders waren die Jäger aufgestiegen. Zehn Minuten später war Rudolf an Hankes Ju 88 vorbeigesegelt, hatte gewinkt und sich genauso gefreut wie der Freund.
Befehle vom Staffelkapitän. Von Maschine zu Maschine. Dann brausen sie durch die Wolkendecke hindurch und halten nach Gegnern Ausschau.
Rudolfs Herz schlägt ruhig und hart. Eine Spannung liegt über dem Mann am Steuer der Me 109, eine ganz andere Spannung als damals, als er in Berlin flog, über die Stadt hinweg, ohne jemals jemanden zum Kampf stellen zu können. Rudolf spürte, dass die Stunde der Bewährung gekommen war. Er hatte sich nach ihr gesehnt, er wollte die Spannung loswerden. Wo ist der Tommy? Hier soll doch immer etwas los sein!
Die Flugzeit der Me 109 ist begrenzt. Man muss auch an den Heimweg denken. Das heißt also, dass man die Spritvorräte im Auge behalten muss!
Aha. Die Flak rührt sich. Der Beschuss gilt den hoch oben dahinziehenden Kameraden.
Auch hinter den dahinjagenden deutschen Jagdflugzeugen zerplatzen jetzt Sprengwolken. Bald müssen die feindlichen Jäger auftauchen.
»Achtung! Feindjäger!«
Da ist also schon der Alarmbefehl. Und jetzt geht alles unglaublich schnell. Ein ganzes Rudel Spitfires taucht plötzlich auf und zieht unterhalb der Kette vorbei. Wie kleine, schwarze Striche hängen die Feindmaschinen in der Luft.
»Drauf auf sie!«
Schon klemmt sich der Staffelführer hinter eine Spitfire und versucht sie ins Visier zu bekommen.
Rudolf schert aus. Auch er hat einen Gegner erkannt und stößt auf ihn zu. Jeder Nerv spannt sich. Rudolf beißt die Zähne zusammen. Die Maschine schießt auf den Engländer zu … ein paar kleine Korrekturen am Steuerknüppel, dann schwimmt die Spitfire ins Fadenkreuz hinein.
Die Bordwaffen rütteln an der Me. Rudolf hat den ersten Feuerstoß losgelassen. Der Engländer kippt ab, stürzt. Getroffen? Nein! Also ihm nach. Er täuscht nur. Er zieht schon wieder hoch und will Rudolf übersteigen. Eine tolle Kurbelei beginnt. Der Schnellere wird siegen. Die Me ist schneller, die Spitfire wendiger. Rudolf drückt den Knopf und schießt. Mitten in die dicht vor der Me hängende Spitfire zischen die Leuchtspurgarben.
Der Engländer bäumt sich auf, schießt hoch. Gleichzeitig bläst er eine dunkle Rauchwolke ab und zieht sie nach. Dann scheint die Feindmaschine eine Weile still in der Luft zu hängen. Flammen schießen aus ihr heraus. Dann stürzt sie, mit langer, lodernder Feuerfahne ab.
Der erste Abschuss. Der Engländer ist »abgestunken«. Rudolf kann es gar nicht glauben, dass alles schon vorbei ist. Geht das so schnell?
Ich bin ja gar nicht anders geflogen, als ich es gelernt hab, denkt er, während er die Me 109 hochzieht. Ich hab genau das gemacht, was man mir beim Schulfliegen eingedrillt hat. Und auf einmal hat man gesiegt.
Ein Blick nach unten überzeugt Rudolf, dass er über die Wolken hinausgeschossen ist. Also umkehren! Wieder hinein und hinunter! Weitermachen! Zwei … drei müssen noch zum »Abstinken« gebracht werden!