»Ich bin froh darüber«, sagte Dr. Martensen schließlich. »Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht, aber das wissen Sie ja schon. In einigen Tagen werden Sie sich wieder ganz gesund fühlen, hoffe ich. Aber ich möchte noch über etwas mit Ihnen reden.«
Sie konnte sich schon denken, worüber, aber ihr Gesicht blieb völlig unbewegt.
»Warum wollen Sie nicht, daß wir ein CT machen?« fragte die Ärztin ruhig. »Es geschieht doch auch zu Ihrer eigenen Sicherheit. Man wird nicht einfach aus heiterem Himmel ohnmächtig, Frau Willbrandt. Es ist wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen, glauben Sie mir das.«
Sie nickte. Auch über dieses Problem hatte sie in der vergangenen Nacht nachgedacht. »Ich bin einverstanden«, sagte sie leise. »Aber frühestens morgen. Ich… also, ich brauche noch etwas Zeit, bevor ich mich freiwillig in so eine Röhre begebe.«
»Ich verstehe, daß einem der Gedanke daran unangenehm sein kann«, sagte Julia Martensen ruhig. »Aber Sie können Musik hören während der Zeit oder sich auf andere Weise ablenken. Es ist gar nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal klarmacht, wie wichtig die Erkenntnisse sind, die eine solche Aufnahme bringen kann.«
»Ist mir klar.« Ihre Stimme klang gelassen, und das war gut so. Nur nichts von dem durchblicken lassen, was in ihr vorging.
»Dann sind wir uns ja einig. Ich bin froh, daß Sie sich nun doch dazu entschlossen haben, Frau Willbrandt. Bis morgen, ich sehe wieder nach Ihnen.«
»Bis morgen.«
Als sie wieder allein war, schloß sie die Augen. Wenn jetzt noch jemand kommt, wollte sie nicht mehr reden. Sollten sie denken, daß sie schlief – das war ihr recht. Sie hatte genug gesagt. Mehr als genug.
Tränen wollten ihr in die Augen steigen, aber sie hielt sie mit Gewalt zurück. Sie würde jetzt nicht weinen, nein, das würde sie ganz bestimmt nicht tun.
*
»Wir bekommen Besuch, Adrian!« Es war Dr. Bernd Schäfer, Assistenzarzt der Chirurgie, der diesen Satz flüsterte. Er tat es gerade noch rechtzeitig, um Adrian die Gelegenheit zu geben, die Augen unwillig zusammenzukneifen und zu knurren: »Was will der denn hier?«
Die Rede war von Thomas Laufenberg, dem Verwaltungsdirektor, der sich gerade höchstpersönlich in der Notaufnahme blicken ließ. Ein seltener Besuch, obwohl sich »der Neue«, wie selbst Adrian zugeben mußte, seit seinem Amtsantritt vor etlichen Wochen schon öfter hier hatte sehen lassen als sein Vorgänger während mehrerer Jahre. Doch das reichte nicht, um Adrians Urteil über Thomas Laufenberg günstig zu beeinflussen. Für ihn war Laufenberg ein Paragraphenreiter, der nichts anderes im Sinn hatte, als den Ärzten an der Kurfürsten-Klinik das Leben schwerzumachen.
Es gab mittlerweile etliche Kollegen, die mit Thomas Laufenberg sehr zufrieden waren – zu diesen gehörte auch Julia Martensen. Sie mied jedoch dieses Thema, wenn Adrian und sie zusammen Dienst hatten. Es war sinnlos, darüber mit ihm zu diskutieren, er konnte außerordentlich stur sein, wenn er einmal von etwas überzeugt war. Es würde ein Wunder geschehen müssen, um ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu revidieren.
Bernd Schäfer hatte sich noch nicht entschieden, was er vom neuen Verwaltungsdirektor halten sollte. Er bewunderte Adrian sehr und schloß sich schon aus diesem Grund gelegentlich unbesehen dessen Meinung an. In diesem Fall aber hatte er eine vage Ahnung, daß sich der sonst so verehrte Notaufnahmechef vielleicht irrte.
Aber, wie gesagt, ganz entschieden war der junge Arzt noch nicht. Er brachte seine beachtlich vielen Pfunde jetzt eilig in Sicherheit – bei einer Auseinandersetzung zwischen Adrian Winter und Thomas Laufenberg wollte er nicht unbedingt in die Schußlinie geraten. Und zu einer Auseinandersetzung würde es sicher kommen, dachte er. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.
Adrian machte eine spöttische Verbeugung. »Wir fühlen uns geehrt durch diesen hohen Besuch«, sagte er. Nichts an seinem gut geschnittenen Gesicht ließ erkennen, daß er normalerweise die Freundlichkeit in Person war. Jetzt blickten sogar seine sonst so warmen braunen Augen kühl.
»Nicht nötig«, gab Thomas Laufenberg nicht minder kühl zurück. Er begann sich schon wieder über den anderen zu ärgern. Was wollte dieser Dr. Winter eigentlich von ihm? Konnte man diese kindischen Kämpfe nicht einfach sein lassen und gemeinsam daran arbeiten, daß das, was verbesserungsbedürftig an der Kurfürsten-Klinik war, tatsächlich besser wurde? Das konnte doch eigentlich nicht so schwer sein.
»Ich bin wegen Frau Willbrandt hier«, fuhr er fort. »Außer ihrem Namen wissen wir offenbar nichts von ihr, und da Sie sie aufgenommen haben, Herr Dr. Winter…«
»… bin ich natürlich auch dafür verantwortlich, daß ihre Personalangaben vollständig vorliegen«, unterbrach ihn Adrian. »Wir haben auch noch andere Dinge zu tun, als Patienten, die durcheinander sind, ständig nach ihrer Krankenversicherungsnummer zu fragen, Herr Laufenberg.«
»Durchaus verständlich«, meinte der Verwaltungsdirektor. »Zufällig ist es so, daß wir in der Verwaltung ebenfalls noch andere Dinge zu tun haben, als hinter Informationen herzulaufen, die uns eigentlich selbstverständlich von den Stationen oder den Patienten bei der Aufnahme direkt geliefert werden sollten.«
Adrian biß sich auf die Lippen, um eine überaus heftige Antwort zu unterdrücken. »Frau Willbrandt hat die Angaben heute morgen gemacht. Die Akten sind schon auf dem Weg zu Ihnen. War das dann alles?«
Er machte Anstalten, sich umzudrehen und einfach wegzugehen, aber Thomas kam ihm zuvor. »Nein, das war es nicht«, sagte er schärfer als beabsichtigt.
Adrian zog die Augenbrauen hoch und wartete, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich wußte ja nicht«, fuhr Thomas bissig fort, »daß mittlerweile das Gedächtnis der Patientin zurückgekehrt ist. Und deshalb habe ich mir die Mühe gemacht, ein wenig nachzuforschen. Es gibt keine Doris Willbrandt in Hamburg.«
Adrian starrte ihn an. »Woher wissen Sie das?«
»Aus dem Internet. In Hamburg wohnen mehrere Leute, die Willbrandt heißen, aber niemand mit dem Vornamen Doris«, gab der Verwaltungsdirektor zurück.
»Vielleicht hat sie kein Telefon. Oder sie wohnt bei ihren Eltern und ist nicht eigens aufgeführt«, entgegnete Adrian. »Vielleicht ist sie auch verheiratet, und nur ihr Mann ist namentlich aufgeführt. Auch das Internet ist nicht unfehlbar.«
»Sicher nicht«, gab Thomas Laufenberg mit erzwungener Freundlichkeit zu. Seine Augen blickten weiterhin kühl. »Aber es ist immerhin denkbar, daß Frau Willbrandt falsche Angaben gemacht hat, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie dieser Information nachgehen. Ich meine damit nicht Sie persönlich – es ist mir völlig egal, wer sich darum kümmert, aber ich werde es nicht mehr sein. Wenn Sie jetzt alle anderen Angaben von ihr haben, dann wird es ja nicht allzu schwierig sein, sich mit ihrer Versicherung in Verbindung zu setzen. Ich warte also darauf, von Ihnen zu hören. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Winter.« Er drehte sich um und ging ohne ein weitere Wort davon.
Adrian mußte an sich halten, um nicht laut zu fluchen. »Was bildet der sich eigentlich ein?« schimpfte er leise vor sich hin. »Ich bin doch nicht da, um die Verwaltung zu entlasten. Brauche ich etwa die Versicherungsnummer von unserer Patientin – oder braucht er sie?«
»Adrian, reg dich ab«, sagte Bernd Schäfer. Er hatte sich nicht ein Wort der Auseinandersetzung entgehen lassen, war aber froh gewesen, daß er sich unsichtbar gemacht hatte. »Der Mann hat recht: Ein Telefonat mit ihrer Versicherung, und die Sache ist geklärt. Wenn du willst, rufe ich dort an.«
Das brachte Adrian Winter schlagartig wieder auf den Boden der Tatsachen. »Danke, Bernd, aber das mache ich schon selbst. Ich weiß auch nicht, warum mich dieser Laufenberg immer so aufregt. Aber etwas an seiner Art geht mir einfach auf die Nerven.«
»Darüber kannst du nachdenken, wenn du mal nichts anderes zu tun hast!« schlug Bernd Schäfer vor. »Und vielleicht solltest du dir ein etwas dickeres Fell anschaffen, dann wärst du gelassener.«
Freundschaftlich