»Guten Morgen«, sagte er außer Atem. »Mann, das ist vielleicht ein Wetter – sieht aus wie ein Weltuntergang.«
»Ach, das verzieht sich schon wieder«, meinte Jessica sorglos. Sie hatte noch gar nicht richtig aus dem Fenster geschaut.
»Schläft Nicky noch?«
»Wie ein Murmeltier. Gestern war es wohl so aufregend mit Cora und Herrn Zapfmann und dem neuen Haus, daß sie völlig erschöpft ist.«
»Dann können wir ja in Ruhe frühstücken«, meinte Alexander zufrieden und warf Jessica heimlich einen prüfenden Blick zu. Geschwollene Augen hatte sie jedenfalls nicht, und besonders unglücklich wirkte sie auch nicht. Das freute ihn. Das freute ihn sogar sehr. »Geht es dir besser?« fragte er vorsichtig.
Sie sah ihn aus ihren klaren blauen Augen an und schien über seine Frage erstaunt zu sein. »Besser? Mir ging es nicht schlecht, Alex. Vielleicht war ich ein bißchen durcheinander, das schon. Und müde war ich natürlich.«
»Ich dachte, du wärest traurig«, murmelte er. »Weil ich dir gestern von Ben erzählt habe und du danach so schnell in deinem Zimmer verschwunden bist.«
»Ich wollte nachdenken«, erklärte sie. »Wenn Ben wieder hier ist, dann werde ich Kontakt zu ihm aufnehmen. Das ist das Ergebnis meiner Überlegungen.«
»Natürlich«, murmelte er niedergeschlagen. Was hatte er denn erwartet? Daß sie Ben endgültig aus ihrem Leben streichen würde? Sie sah also deshalb so gelassen aus, weil sie neue Hoffnungen geschöpft hatte!
»Ich werde ihn schon finden«, sagte Jessica zuversichtlich.
»Und dann?« fragte er vorsichtig.
Ihr Gesicht verschloß sich. »Wir werden sehen«, antwortete sie knapp.
Auf einmal war Alexander das Frühstück vergällt. Er schob seinen Teller mit einem angebissenen Brötchen von sich und stand auf.
»Willst du schon gehen?«
»Ja, ich hab’ keinen Hunger, und es kann nur gut sein, wenn ich ein bißchen früher im Büro bin als die anderen. Ich hab’ so viel zu lernen, weißt du.«
»Ja, sicher«, antwortete sie und bemühte sich, gleichgültig zu klingen. Was hatte er nur? Als er vom Bäcker zurückgekommen war, hatte er ganz zufrieden ausgesehen, doch jetzt war sein Gesicht ernst und verschlossen. Sie wurde einfach nicht klug aus ihm.
Sie folgte ihm bis zur Haustür und sah nun doch schaudernd in den düsteren Morgen, den sie noch eben kaum zur Kenntnis genommen hatte. »Was ist das nur für ein Wetter um diese Jahreszeit!« sagte sie schaudernd. »Das sieht ja aus wie der finsterste November! Am besten beeile ich mich mit den Einkäufen, die ich dringend machen muß. Immerhin regnet es jetzt nicht mehr.«
Bei ihren Worten änderte sich sein Gesichtsausdruck, er wirkte besorgt. »Paß auf dich auf«, sagte er. »Das sieht wirklich nicht gut aus.«
Sie nickte. »Mach’s gut, Alex«, meinte sie leise. »Hoffentlich hast du keinen allzu schweren Tag.«
»Tschüß, bis heute abend!« Er drehte sich um und lief eilig zu seinem Wagen, während der Wind ihm heftig durch die Haare fuhr und an seiner Kleidung zerrte. Er sah Jessica im Rückspiegel noch in der Tür stehen, bis er abbiegen mußte.
*
Es war reiner Zufall, daß Karl Zapfmann beobachtet hatte, wie Alexander Stolberg Abschied von seiner jungen Frau nahm, und er konnte sich nicht genug darüber wundern. Er hatte ihr keinen Kuß gegeben, sie nicht umarmt, ihr nicht einmal die Wange gestreichelt. Er hatt sie überhaupt nicht berührt.
Und Sie? Sie hatte ihm nachgeschaut, bis sein Wagen um die nächste Ecke verschwand, und dann hatte sie ganz langsam und traurig die Tür geschlossen. »Da stimmt was nicht, Cora, das sage ich dir«, teilte er seinem Dackel mit.
Cora war jedoch an diesem Morgen nicht ansprechbar. Sie war eine Hündin mit ausgeglichenem Gemüt, aber trübes Wetter und heraufziehenden Sturm konnte sie nicht ausstehen. Sie würde, wenn man sie ließ, den ganzen Tag mehr oder weniger verschlafen, bis die Sonne endlich wieder schien.
Auch Karl Zapfmann betrachtete den Himmel voller Sorge. An einem solchen Tag konnte er Cora nicht gut allein lassen – er kannte sie schließlich. Beherzt griff er zum Telefon, rief in der Kurfürsten-Klinik an und ließ sich mit der Notaufnahme verbinden. »Herrn Dr. Winter, bitte«, verlangte er.
»Da müssen Sie sich einen Augenblick gedulden, er ist gerade erst gekommen. Sein Dienst fängt jetzt an. Sie haben Glück, daß Sie ihn überhaupt erreichen«, teilte ihm eine freundliche Frauenstimme am Telefon mit.
»Ich kann warten«, erwiderte Karl.
Es dauerte aber gar nicht lange, da meldete sich die sympathische Stimme des jungen Arztes. »Winter, Notaufnahme.«
»Hier ist Zapfmann, guten Morgen, Herr Doktor Winter. Ich rufe Sie nur an, um Ihnen zu sagen, daß ich heute nicht kommen kann.«
»Herr Zapfmann!«
Karl hörte genau, daß der Arzt lächelte, und das freute ihn. Zwar sprach er immer ganz streng mit ihm, aber er meinte es nicht so, das hatte er gleich gemerkt. Sie verstanden sich eben, der Herr Dr. Winter und er!
»Ja«, sprach er schnell weiter, um den Vorwürfen des Arztes zuvorzukommen. »Wegen des Wetters. Bei Sturm kann ich Cora nicht alleinlassen. Sie kann fast alles vertragen, aber bei diesem Wetter dreht sie durch. Deshalb kann ich heute nicht kommen, aber ich möchte nicht, daß Sie denken, ich wolle mich drücken. So ist das nämlich nicht.«
»Sie hätten auf der Station anrufen und sich dort abmelden sollen«, erwiderte Dr. Winter. »Das hatten wir doch gestern so besprochen.«
»Moment mal, Herr Doktor. Sie haben das gesagt, aber ich war damit von Anfang an nicht einverstanden. Und ich habe auch nicht gesagt, daß ich heute auf die Station gehen will. Ich wäre wieder zu Ihnen gekommen – aber nun komme ich gar nicht. Sie sind mir doch nicht böse?«
Einen kurzen Augenblick lang war es ganz still in der Leitung, dann lachte Dr. Winter herzlich. »Nein, Herr Zapfmann. Es würde mir ja auch sowieso nichts nützen, oder?«
»Ich glaube nicht«, antwortete der alte Herr ehrlich. »Ich komme morgen, das verspreche ich Ihnen. Wahrscheinlich gibt es heute sowieso jede Menge Unfälle, die Sie verarzten müssen.«
»Beschreien Sie es nicht!« bat der Arzt. »Das sind so Tage, vor denen wir uns in der Notaufnahme fürchten, das können Sie sich ja bestimmt vorstellen, Herr Zapfmann. Jetzt versprechen Sie mir aber bitte, daß Sie sofort kommen, wenn Sie sich nicht wohl fühlen sollten – oder wenn überhaupt irgend etwas ist!«
»Dann komme ich natürlich«, sagte Karl großzügig. »Aber machen Sie sich nur keine Sorgen um mich – mir geht es großartig, Herr Dr. Winter. Die Hand tut natürlich ein bißchen weh und mein Kopf auch, aber ich ruhe mich aus und tue fast nichts. Sie wären bestimmt zufrieden, wenn Sie mich sehen könnten.«
»Dann will ich Ihnen das mal glauben«, erwiderte der Arzt lachend. »Und nun möchten Sie, daß ich wieder auf der Station Bescheid sage für Sie – sehe ich das richtig?«
»Völlig richtig«, bestätigte Karl Zapfmann zufrieden. »Auf Wiedersehen, Herr Dr. Winter. Bis morgen.« Er legte auf und sagte: »Entspann dich, Cora. Ich bleibe heute den ganzen Tag bei dir!«
Cora hob kurz den Kopf, sah ihn aus blanken Augen an, gähnte ungeniert und bettete den Kopf dann wieder auf ihre Vorderpfoten.
*
»Nun wein doch nicht, Nicky. Das ist doch nur ein bißchen Wind!« sagte Jessica zärtlich zu ihrer kleinen Tochter. Sie stand mit ihr in einer Telefonzelle. »Dir kann überhaupt nichts passieren. Wir gehen gleich wieder zurück nach Hause, hörst du?«
Nicky hörte auf zu weinen und sah ihrer Mutter mit großen Augen ins Gesicht.
»So ist es besser, mein Schätzchen. Ich muß nämlich telefonieren,