Er spricht von Ignazio.
„Aber er ist anders“, sage ich. Mein Blick schweift zu dem kleinen Holztisch zwischen uns, als würde ich unterbewusst an meinen eigenen Worten zweifeln. Er ist anders, das stimmt, doch das heißt nicht, dass er sich tatsächlich geändert hat.
Kann er sich ändern? Ich weiß es nicht.
Sollte ich mir das überhaupt wünschen?
Es ist über ein Jahr her, dass mich im Eingangsbereich unseres Hauses in Brooklyn eine Kugel traf, doch meine Brust schmerzt immer noch so, als wäre es gestern passiert. Die körperliche Verletzung ist geheilt, aber mein Herz ist eine andere Sache. Ein Teil davon bleibt gebrochen. Wahrscheinlich wird das immer so bleiben.
Vor sechs Wochen hat Naz mich gebeten, ihn zu heiraten. Im Gegensatz zum ersten Mal hat er mich wirklich gefragt. Und als ich dieses Mal ja sagte, wusste ich genau, auf was ich mich einließ. Ich weiß, was für eine Art von Mann er ist. Ich weiß, was er getan hat und was er tun wollte. Wir gaben uns noch am selben Abend im MGM Grand Hotel in Las Vegas das Ja-Wort und seitdem habe ich jede Nacht in der Überzeugung verbracht, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Weil er anders ist.
Das ist er wirklich.
Aber was genau bedeutet anders?
Giuseppe legt seine raue, schwielige Hand auf meine und drückt sie leicht, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Er lächelt, aber es ist kein glückliches Lächeln. Es wirkt eher mitleidig.
Ich kann fast hören, was er denkt.
Armes kleines Mädchen, du weißt nicht, in was du hineingeraten bist.
„Man sagt, wenn man einen Frosch in kochendes Wasser setzt, springt er sofort wieder heraus“, sagt er. „Aber wenn man einen Frosch in kaltes Wasser setzt und die Temperatur stetig erhöht, bleibt er, wo er ist, als ob nichts passiert wäre. Weißt du, worauf ich hinaus will?“
Ich runzele bei diesem abrupten Themenwechsel die Stirn. „Nein.“
„Du bist der Frosch, Mädchen. Und Ignazio? Er kocht dich bei lebendigem Leib, ohne dass du es bemerkst.“
Ich will widersprechen. Ich will ihm sagen, dass er Unrecht hat. Denn so ist es. Er hat Unrecht. Aber das Einzige, was mir dazu einfällt, ist ‚er ist anders‘. Und ich kann nicht erklären, was genau das bedeutet. Er ist immer noch Naz, immer noch derselbe einschüchternde Ignazio, aber Vitale hat sich nicht gezeigt – jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.
Ich weiß allerdings, dass Giuseppe nicht zwischen den Masken unterscheiden kann. Er blickt seinen Sohn an und sieht nur das Monster, in das er sich im Laufe der Jahre verwandelt hat. Er sieht nicht den Mann, der er gewesen ist oder den Mann, der er jetzt ist, den Mann, der er versucht zu sein.
Manchmal verschwindet er nachts immer noch. Gelegentlich gibt es noch geflüsterte Telefongespräche. Er ist immer noch paranoid, überfürsorglich und extrem vorsichtig, aber er ist nicht grausam. Er ist nicht arglistig. Ich verstehe ihn. Er versteht mich. Er fasst mich nicht mit Samthandschuhen an, geht mit mir aber auch nicht so um, dass ich es nicht ertragen könnte. Er behandelt mich wie einen Menschen, nicht wie einen Besitz – obwohl seine besitzergreifenden Züge manchmal sehr stark ausgeprägt sind.
Der Mann ist ein Mysterium. Ein schönes, manchmal erschreckendes Puzzle, das ich immer noch Stück für Stück zusammensetze.
Giuseppe interessiert sich jedoch nicht für den Heilungsprozess seines Sohnes. Soweit es ihn betrifft, ist Naz so gebrochen, dass es für ihn keine Rettung gibt.
Bevor ich mir überlegen kann, was ich Giuseppe antworte – abgesehen von ‚aber er ist anders‘, öffnet sich die Tür des Feinkostladens und die Glocke bimmelt laut. Ich muss nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass es er ist. Das liegt an der Art, wie er hereinkommt, wie sich die Luft abzukühlen scheint, während gleichzeitig sein Blick Hitze ausstrahlt. All das sagt mir, dass Naz da ist.
Giuseppe dreht sich nicht um, aber ich weiß, dass er es auch spürt.
„Porcavacca“, murmelt er, seufzt laut, zieht seine Hand von meiner, schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. Sein Blick bleibt auf mein Gesicht gerichtet, das Mitleid wird von Frust verdrängt. „Möchtest du Kekse? Wie wäre es mit ein paar Snickerdoodles?“
Er wartet nicht auf meine Antwort, sondern geht.
Ein paar Sekunden später wird der Stuhl mir gegenüber wieder bewegt und jemand anderes nimmt darauf Platz. Ich sehe zu ihm auf und lächle, als er leise sagt: „Ich fühle mich hier wie eine Hure in der Kirche.“
Naz und sein Vater ähneln sich sehr, aber ich werde mich hüten, ihnen das zu sagen. Diese sturen Männer.
„Warum ausgerechnet hier“, sagt er, hebt die Brauen und starrt mich über den Tisch hinweg an. „Ich hätte auch in letzter Minute einen Tisch im Le Bernardin kriegen können, hätte dich wieder ins Paragone ausführen können. Aber nein, du willst dich mit mir zum Mittagessen bei Vitale’s Italian Delikatessen treffen.“
Ich zucke mit den Schultern. „Das Essen hier ist gut.“
„Da widerspreche ich nicht, aber die Atmosphäre lässt doch zu wünschen übrig.“
Giuseppe kommt zurück und stellt einen Teller mit Keksen vor mir auf den Tisch. Sie sind so frisch, dass ich noch den warmen Zimt riechen kann. „Oh, dich schickt der Himmel“, sage ich, nehme einen Keks und beiße hinein. Köstlich.
Naz verdreht die Augen. Er verdreht die Augen.
Ich glaube nicht, dass ich jemals gesehen habe, dass dieser Mann die Augen verdreht.
„Willst du etwas bestellen?“, fragt Giuseppe ungeduldig und sieht sein einziges Kind finster an. „Oder hast du nur vor, hier eine Weile rumzuhängen?“
„Kommt drauf an“, antwortet Naz.
„Auf was?“
„Darauf, ob du bereit bist, mir etwas zu bringen oder nicht.“
Giuseppe geht grummelnd davon, stapft hinter den Verkaufstresen und schiebt grob die Schwingtüren auf. Er verschwindet in der Küche.
„Heißt das jetzt, dass wir hier essen?“, frage ich.
„Es heißt, dass ich bestelle“, sagt Naz. „Er ist entweder nach hinten gegangen, um Essen für uns zu machen, oder er ruft die Polizei an, weil ich sein Geschäft widerrechtlich betreten habe. Aber so hungrig, wie ich bin, gehe ich dieses Risiko ein.“
Naz steht auf, geht zum Verkaufstresen und bestellt zwei Italian Specials.
Nachdem er bezahlt hat, will er zum Tisch zurückgehen, zögert aber. „Sie haben nicht zufällig eine Zeitung von heute, oder?“, fragt er den jungen Mann, der hinter der Kasse steht. Er ist einer von nur drei Angestellten, die Giuseppe dabei helfen, das Geschäft zu führen. Er neigt dazu, den größten Teil der Arbeit selbst zu erledigen, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht Stolz. Wahrscheinlich Dickköpfigkeit.
Bevor der Mann antworten kann, poltert Giuseppe aus der Küche: „Kauf dir deine eigene Zeitung!“
Kopfschüttelnd setzt sich Naz wieder. „Ich denke, dass inzwischen offensichtlich ist, von wem ich meine Arschloch-Gene habe.“
„Er ist kein Arschloch“, sage ich, wobei ich mir weiterhin Kekse in den Mund schaufele. „Und du auch nicht. Ihr seid nur … ein bisschen intensiv.“
„Intensiv“, wiederholt Naz. „So kann man es auch nennen.“
Er ist intensiv. Seine Intensität ist unübertroffen. Seine hellblauen Augen scheinen sich in mich zu brennen, während sein Blick langsam und sorgfältig über mein Gesicht wandert. Er beobachtet mich beim Kekse essen, als würde es ihn heiß machen. Ich spüre wie meine Wangen warm werden, als das Blut hineinschießt. „Warum starrst du mich so an?“
Er