Kerschbaumer schaffte es ohne Zwischenfälle bis nach ganz oben, bog im Ortskern nach rechts auf den Maibrunnenweg ab, fuhr den Italienerhügel hinauf, der so hieß, weil ab eintausendfünfzig Metern Höhe alle, wirklich alle Apartments im Privatbesitz italienischer Familien waren, und gelangte schließlich in sein Hotel Kirchheimerhof, wo er, den Bauch einziehend, noch kurz mit den beiden hübschen Rezeptionistinnen flirtete, bevor er ausatmete und auf sein Zimmer ging.
2.Ernstls Skigruppe macht
eine Entdeckung
Wer sich den unverständlichsten Kärntner Bergdialekt vorstellt und ihn mit zehn multipliziert, bekommt in etwa eine Vorstellung von Ernstl Tiefenhauer, seiner Ausdrucksweise und seiner Welt. Ernstl, blond und hager, war der beliebteste Ski- und Snowboardlehrer der Ski- und Snowboardschule Kraxler, die sich ein Monopol erarbeitet hatte und in der Hochsaison, die bald beginnen sollte, mit siebzig angestellten Skilehrern bis zu eintausendvierhundert Schüler pro Woche über die Pisten scheuchte.
Derzeit waren nur zwei Kindergruppen zu betreuen, und die Eltern wollten unbedingt Ernstl. Sein völlig unverständliches Gemurmel hatte etwas angenehm Sedierendes, und Skifahren, guter Gott, das konnte er wie kein zweiter. Selbst auf tiefschwarzen Pisten wie der Franz-Klammer-Abfahrt fuhr der Zweiundzwanzigjährige rückwärts vor seiner Gruppe her und gab Tipps und Korrekturen, die keiner verstand. Außerdem lächelte er immer freundlich. Also musste er auch schon in der Nebensaison ran, denn alle, die ihn noch vom Vorjahr kannten, verlangten nach ihm.
Dabei hatte es erst gestern ein kleines Malheur gegeben. Er war oben mit zwölf Kindern gestartet und unten mit elf Kindern angekommen. Einer der Kleinen musste mal Pipi und konnte es durch seine Sturmhaube nicht kommunizieren, und so war er einfach eigenmächtig ausgeschert. Die Aufregung war überall groß, außer bei Ernstl, der anschließend im Büro der Skischule meinte, man solle ihm einfach die jungen Holländerinnen geben statt kleiner Kinder. Die Sekretärinnen der Skischule verstanden, was Ernstl sagte. Aber nur ein bisschen.
Heute war es etwas besser, denn Ernstl hatte eine Kindergruppe bekommen, die schon sicherer auf den Skiern stand (keine »Pizza« und »Spaghetti« mehr – »Pizza« hieß Schneepflug, »Spaghetti« paralleles Fahren). Mit diesen fortgeschrittenen Rackern verließ er auf der Maibrunnabfahrt auf eintausendsiebenhundert Metern, wo bereits echter Schnee lag, die Piste und stieb durch die Wälder.
Zwei Kinder prallten gegen Bäume, ein drittes fädelte die Skispitzen ein und überschlug sich, ein viertes verkantete und rutschte einen Abhang hinab. Der übliche Schwund bei Ernstls Kindergruppen; alle hatten ihren Spaß. Ernstl schnallte sich die Skier ab, um Kind Nummer vier zu bergen, das unten zwischen zwei Baumstümpfen auf dem Rücken lag, aber dabei recht fröhlich winkte.
Während des Skischuh-Gestapfes hangabwärts blitzte ihm vom Waldrand etwas in die Augen: ein Stich Neon von links, ein ungewöhnlicher Farbblitz in diesem hochalpinen Ensemble von Weiß und Grün. Ernstl blinzelte und wandte den Kopf. In der offenen Holztür eines Stadls, der mittlerweile als Lagerschuppen einer nahen Almhütte diente, lag etwas – nein, das war … ja, das war zweifellos eine Person.
Genauer gesagt war es ein Mädchen mit langen blonden Haaren, die auf ihren teuren bunten Skianzug von Bogner fielen. Eintausendzweihundert Euro kostete so ein Skianzug, wusste Ernstl, denn damit kannte sich der Bergbauernbub aus.
Nein, es war kein Mädchen, wohl eher eine junge Frau, erkannte Ernstl beim Näherstapfen. Es sah beinahe so aus, als ob sie schlief. Wäre da nicht das verstörende Detail eines Messers, das bis zum Schaft in ihre Brust gerammt war.
TAG 1 DER ERMITTLUNGEN
Dienstag, 5. Dezember
WETTER
Kühle, graue, äußerst missmutige Wolkendecke, mit vereinzelt nachteiliger Auswirkung aufs Gemüt.
PISTENBERICHT
Eine belgische Mutter mit burschikoser Kurzhaarfrisur beschwerte sich über Ernstls Ausflüge mit der Kindergruppe abseits der Piste. Wegen der Lawinengefahr. Sie wollte »den Inhaber sprechen« und zog erst wieder ab, als sie zehn Prozent Ermäßigung bekam.
3.Fastenbrechen
Im Hotel gibt es zwei Arten von Menschen. Die einen fragen, ab wann es Frühstück gibt. Die anderen fragen, bis wann es Frühstück gibt. Wendelin Kerschbaumer, sonst Frühaufsteher, ließ es sich hier nicht nehmen, die Disponibilität des Servicepersonals aufs Äußerste auszureizen. Zu einer guten Kur, befand er, gehörte ein guter Schlaf.
Leider gehörte zu einer guten Kur auch eine gesunde Ernährung. Müsli, Obst, Tee und ähnlich freudloses Zeug. Keine der köstlichen, warmen, duftenden Semmeln, keine der in allen Rottönen lockenden Marmeladen, und schon gar nicht Spiegelei mit Speck oder ein milchiger, extragroßer Cappuccino. Und während er noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Brotkörbe warf, führte sein Handy rund um den erbärmlichen Müslischleim, den er sich vorgesetzt hatte, einen lautlosen Vibrationstanz auf.
»Hallo?«
Nachdem das Telefonat zu Ende geführt war, hatte sich die Sache mit dem Kururlaub vorerst erledigt. Das änderte zwar nichts an dem trüben Blick aus dem Fenster ins erbärmliche Grau dieses Vormittags, es änderte aber wohl etwas am Müslischleim. Das Erste, was Kerschbaumer tat: Er ging zum Buffet und holte sich zwei Spiegeleier mit knusprigem Speck. Dann bestellte er sich einen milchigen, extragroßen Cappuccino. Schließlich mussten die Nachrichten aus Wien erst mal verdaut werden.
Am Telefon war der atemlose Isidor Kruschannig gewesen, der Abteilungsleiter der Landespolizeidirektion Wien. Der atemlose Kruschannig war Kerschbaumers Vorgesetzter. Er hieß überall nur Annig, denn am Telefon meldete er sich so hastig, dass man nur den letzten Teil seines Namens verstand. Sein Ruhepuls musste bei etwa hundertfünfzig Schlägen pro Minute liegen. Zum Sanguiniker fehlte ihm allerdings das heitere Gemüt, denn er trug schwer an seiner Verantwortung. Am Telefon hatte er gefiept und gejapst, und allen Kollegen – auch ihm selbst – war klar, dass ein fulminanter Herzinfarkt praktisch an der nächsten Straßenecke auf ihn wartete, in hochhackigen Schuhen und verführerischen Netzstrümpfen. Vielleicht nicht heute, und vielleicht auch nicht morgen, aber doch lange vor der Wiederkehr des Halleyschen Kometen.
Das Telefonat, dessen Inhalt hier in klarem Deutsch statt in hechelndem Wienerisch zusammengefasst werden soll: Es hatte einen Mord in Bad Kleinkirchheim gegeben. Übrigens den ersten seit elf Jahren – den Selbstmord eines störrischen Bergbauern nicht mitgerechnet, der ganz aus Versehen am Abend Rattengift im Obstbrand zu sich genommen hatte und dessen Grundstück danach von den Erben endlich gewinnbringend an einen ausländischen Investor verkauft werden konnte. Jedenfalls hatte sich der zuständige Chefinspektor von der Landespolizeidirektion Kärnten, ein gewisser Hartmut Trevisol, beim Gletscherskifahren überschätzt und lag nun mit einem Schien- und Wadenbeinbruch im Klinikum Klagenfurt. Die Landespolizei hatte auf seiner Dienstebene bei den Kollegen um Hilfe gebeten, denn die Sicherheitskräfte vor Ort hätten zwar Erfahrung mit falsch parkenden Eltern, die ihre Kinder nur mal schnell zum Kinderkurs bringen wollten, sowie mit betrunkenen Nordländern in Après-Ski-Hütten, aber zu einem waschechten Mord fehle ihnen dann doch die Kompetenz. Da habe Annig sogleich den Kerschbaumer ins Spiel gebracht, wo der doch, wie Annig zwischen zwei Atemzüge schob, seit der Sache mit dem Raubmord im vierten Wiener Bezirk gewissermaßen österreichweit ein Held der Sicherheitsexekutive sei, inklusive Auftritt bei den deutschen Freunden von »Aktenzeichen