Wie sollte das weitergehen, wenn sie sich fortan nicht mehr aus dem Haus wagen durfte, überlegte Julia schweren Herzens. Ihr lebhaftes Söhnchen würde sich bald eingesperrt fühlen. Er fand es auch schon gar nicht mehr lustig, daß er immer nur dieselben Sachen anziehen sollte.
Doch zunächst frühstückten sie einmal gut, und ein paar Stunden später bereitete sie ein schönes Mittagessen. Noch konnte sie sich der trügerischen Illusion hingeben, daß ihr Kind ihr gehörte.
Nicht mehr lange!
Als es am Nachmittag anhaltend klingelte, wurde es Julia eiskalt. Hatte man sie doch schon aufgespürt? Sie ging ans Fenster. Tief unten, unverkennbar, stand Alexanders Wagen.
»Das ist jetzt sicher mein Papa!« rief Florian und klatschte in die Hände. So gern er bei seiner Mama war, wurde es ihm inzwischen doch langweilig, nur in der Wohnung zu sein und ohne seine Spielsachen.
Was sollte sie tun, fragte sich Julia und grub die Zähne in die Unterlippe. Nicht öffnen? Ach, es würde wenig Sinn haben.
»Warum machst du nicht auf, Mami?« drängte Florian. Er lief an die Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen, aber er kam an den Drücker noch nicht heran. Zappelnd versuchte er es immer
wieder, während die Klingel gellte.
»Ich komme ja schon«, sagte Julia tonlos.
Sekunden später war Alexander oben.
»Papi!« rief Florian und warf sich gegen ihn, seine Knie umklammernd.
Alexanders Gesicht war wie aus Holz geschnitzt. Nur seine Kinnmuskeln spielten. Wie ein Pfeil traf Julia sein Blick.
»Was hast du dir denn dabei gedacht«, knirschte er. »Hast du geglaubt, ich würde dich nicht finden?«
Wortlos trat Julia beiseite. Das Spiel war aus. Florian mußte seine Schuhe anziehen, in der Wohnung lief er auf Söckchen.
»Wir haben uns hier versteckt, Papa«, lachte der kleine Junge. »Du mußt aber deswegen nicht bös sein und so’n Gesicht zum Fürchten machen. Jetzt komm ich ja wieder zu dir und zu der Oma und zu Annick. Hat die Annick geschimpft gekriegt, weil ich mit der Mama weggelaufen bin?«
»Das kannst du wohl glauben«, versicherte ihm sein Vater.
Julia streifte ihrem Sohn den Pullover über, Alexander hatte schon den Anorak in der Hand. Als er fertig angezogen war, schmiegte sich Florian an seine Mutter. Er blickte zu ihr auf.
»Du weinst doch nicht, Mami?« fragte er, nun plötzlich beklommen.
»Nein, nein«, sagte Julia.
»Ich bin bald wieder bei dir«, Florian rieb den blonden Kopf an ihrem Arm, »aber dann in unserer richtigen Wohnung, und da spielen wir mit dem Kasper, aber ganz lange.«
»Jetzt komm schon!« Sein Vater zog ihn zu sich. An der Tür wandte er sich zu seiner geschiedenen Frau um, die ihn keines Wortes gewürdigt hatte. »Daß du dir so etwas nicht noch einmal einfallen läßt«, äußerte er drohend. »Es würde dir schlecht bekommen, denn dann würde ich zu anderen Mitteln greifen. Nimm dich in acht.«
Als sie allein war, ließ Julia den Tränen freien Lauf, die sie zurückgedrängt hatte. Danach fühlte sie sich leer und apathisch. Aber sie gab dem Verlangen nicht nach, sich einfach sinken zu lassen und nicht mehr aufzustehen, wie sie es am liebsten getan hätte.
Sie brachte die Wohnung in Ordnung, zog die Bettwäsche ab, um sie bei sich zu waschen, und packte die Lebensmittelvorräte wieder ein, die noch reichlich vorhanden waren. Sie war eben doch eine Phantastin, daß sie hatte annehmen können, es würde noch ein paar Tage gutgehen.
Dann schloß sie ab und fuhr nach Hause, wo nichts und niemand sie erwartete. Zerknüllte Blätter, die Schreibmaschine noch aufgedeckt, so, wie sie vor wenigen Tagen vor ihr davongelaufen war…
*
»Wenn du nicht mit willst, dann gehe ich eben allein«, sagte Kerstin und zupfte an dem glitzernden Etwas, das an ihrer hübschen Figur herabhing. Kleid konnte man es wohl kaum nennen. Es war ein Stück Stoff, das etwa drei Handbreit über ihrem Knie endete. »Wie du siehst, habe ich mich schon für die Party angezogen. Es ist neu. Wie findest du es?« Sie machte ein Drehung um sich selbst.
»Reizend«, sagte Mathias, denn das wollte sie doch hören. Im Grunde mochte er diese superkurzen Sachen nicht. Er war kein Spießer, und Kerstin konnte sie sich auch leisten mit ihren schlanken Beinen. Trotzdem fand er, daß etwas mehr Verhüllung eine junge Frau reizvoller machte als diese Zurschaustellung.
»Also?« Sie legte den Kopf mit dem kastanienrot gefärbten, modisch gekräuselten Haar in den Nacken und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Was ist nun?«
Mathias Walden seufzte leicht auf. Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich, und er hatte sich auf ein ruhiges Wochenende gefreut. Daß eine Party auf dem Programm stand, hatte er total vergessen. »Kerstin«, begann er begütigend, »hab doch Verständnis dafür, daß ich heute keinen Sinn für Partygeschwätz habe, mit all dem jungen Volk, das sich da zusammenfindet und tanzen und ausgelassen sein will.«
»Du redest wie ein alter Mann«, schmollte Kerstin und spazierte auf ihren hohen Plateausohlen im Zimmer auf und ab.
Ein humorvolles Lächeln ging um Mathias’ Mund. »Na ja, ich bin immerhin dreiunddreißig, da braucht man anscheinend schon ab und zu seine Ruhe und Entspannung.«
»Aber wenn es darum ginge, mich in ein todlangweiliges Konzert zu schleppen, da könntest du das wahnsinnigste Gewirr von Tönen ertragen, und Pauken und Trompeten würden dir auch nichts ausmachen«, hielt sie ihm hitzig vor.
Mathias lachte laut auf. Im Anfang ihrer Bekanntschaft hatte ihm Kerstin vorgeflunkert, ebenfalls Interesse an klassischer Musik zu haben. Also hatte er sie in ein Symphoniekonzert mitgenommen, später in eine Wagner-Oper. Sie mußte Höllenqualen ausgestanden haben. Erst an einem dritten Abend, mit einem berühmten Sänger, der Lieder von Richard Strauß zu Gehör brachte, war er aufmerksam geworden. Da war seine hübsche Freundin nämlich einfach eingeschlafen, ihr Kopf an seine Schulter gesunken.
Hinterher hatte sie ihm kleinlaut eingestanden, daß sie mit dieser Art von Musik nichts, aber auch gar nichts anfangen könnte, ja, sie sogar ziemlich fürchterlich fand.
»Ach, du liebes Opferlamm, warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt«, hatte er sie eher amüsiert gefragt.
Weil sie ihm doch in allem gefallen wollte, war ihre Antwort gewesen.
»Jetzt lachst du«, tat sie gekränkt. »Du nimmst mich eben nicht ernst.«
Mathias streckte seinen Arm nach ihr aus. »Komm mal her, mein Mädchen.«
Bereitwillig folgte sie seiner Aufforderung. Sie setzte sich auf seinen Schoß und legte den Arm um seinen Nacken. Er gab ihr einen freundschaftlichen Kuß auf die Wange.
»Du gehst jetzt schön zu deiner Party, da kennst du eine Menge Leute und wirst dich gut amüsieren. Und morgen abend gehen wir dann schick essen, ja?« Er wollte sie doch dafür entschädigen, daß er sie heute enttäuschte.
»Ins Colombi?« fragte sie interessiert.
»Meinetwegen auch ins Colombi.« Das war ein teures und sehr elegantes Hotelrestaurant, das Kerstin mächtig imponierte. Seine Hand glitt über ihren seidenbestrumpften Schenkel. »Nun dürfte das dann hier ein paar Zentimeter mehr bedeckt sein«, fügte er vorsichtig hinzu.
»Okay, ich werde mich als Dame verkleiden, Herr Dr. Walden«, versprach sie übermütig und sprang auf. »Also tschüs dann, bis morgen. Ich ruf dich vorher noch an.«
Mathias nahm ein Buch zur Hand, als sie fort war. Aber er las nur wenige Zeilen, dann ließ er es wieder sinken.
Kerstin… Seit ungefähr einem dreiviertel Jahr dauerte nun ihre Beziehung. Manchmal fragte er sich schon, wohin das eigentlich führen sollte. Sie war neun Jahre jünger als er, was nicht unbedingt ein Problem