»Nein, das mache ich nicht«, sprach Carsten langsam. Er trat auf sie zu. Ina hielt den Atem an. Würde er sie jetzt doch endlich einmal in den Arm nehmen, zärtlich zu ihr sein, ihr ein gutes Wort sagen? Er konnte sie doch nicht so im Stich lassen! Aber er sagte nur, auf den Koffer blickend: »Komm, laß doch diesen Unsinn. Davonlaufen macht auch nichts klarer. Du kannst morgen bei der Besprechung mit Merseburger nicht fehlen.«
Ihr Herzschlag, der sich beschleunigt hatte, ebbte ab. »Morgen früh bin ich schon weit«, erklärte sie. »Macht doch, was ihr wollt. Ich bin kein Roboter. Ich muß mal zur Besinnung kommen. Und vielleicht finde ich dann die Klarheit, zu der du mir um keinen Deut weiterhilfst.«
Am Morgen stand Ina vor ihrem Mann auf und machte sich fertig. Carsten hatte eine Schlaftablette genommen, was er jetzt leider öfter tat. Er rauchte zuviel, er lebte ungesund. Wenn der Wecker ihn emporriß, würde sie bereits fort sein. Aber sie legte ihm einen Zettel hin: Ich bin in Lindenhain. Kommst du nach? Ina.
Natürlich würde er nicht nachkommen. Die Agentur war ihm hundertmal wichtiger als sie und das Kind, das sie erwartete. Letzteres war ihm doch nur entsetzlich im Wege.
In der Nacht hatte sie es sich überlegt, daß sie in den kleinen verträumten Ort fahren würde, wo sie ihren Hochzeitsurlaub verbracht hatten. Eine Woche nur und recht bescheiden, was die äußeren Umstände betraf, weil sie sparen wollten, sie hatten doch so große Pläne.
Aber wie glücklich waren sie dort gewesen, wo sie ganz zufällig hingefunden und einfach dageblieben waren! Hoffte sie, noch einen Abglanz jenes Glücks zu finden, das im Alltag verlorengegangen war? Mochte es ihr doch einen Ausweg aus der Wirrnis ihrer Gefühle aufzeigen! War da nicht manchmal, seltsam genug, schon eine winzige, zaghafte Freude, die in ihr aufkeimen wollte…
Ina fand den Gasthof wieder, in dem sie mit Carsten vor sieben Jahren gewohnt hatte. Er hieß ›Zur Linde‹ in Lindenhain. Es hatte sich nichts verändert, die Wirtsleute waren die gleichen, und auch die freundliche, bei aller Schlichtheit so anheimelnde Atmosphäre war geblieben. Sie bekam sogar dasselbe Zimmer. Es gab nur fünf in diesem Haus, und noch waren kaum Gäste da.
Das war ein großes Aufatmen für Ina, hier, wo es keine Hochhäuser und keine Autoschlangen gab, nur eine große Stille, und klare, würzige Luft von den Feldern und Wiesen und den bewaldeten Hügeln her. Sie ging viel spazieren. Ihre überreizten Nerven beruhigten sich.
Überall wurden Erinnerungen wach. Nur daß es damals Sommer gewesen war und jetzt erst ganz junger Frühling, noch recht kühl, mit eilig dahinsegelnden Wolken, durch die ab und zu die Sonne brach.
Hier, bei der Kapelle auf dem Hügel, hatte sie mit Carsten auf der Bank gesessen, eng aneinandergeschmiegt hatten sie den Sonnenuntergang zugeschaut, sich über ein Eichhörnchen gefreut, das eilig am Baum emporkletterte. Sie hatten doch beide Sinn dafür gehabt. Durfte man es denn nur zulassen, daß einem die Freude an der Natur und ihren Lebewesen nach und nach verlorenging und mit den Jahren fast nur noch Geld und Erfolg zählte? Daß man sich kein Kind ›erlauben‹ konnte, vor lauter Bedenken, es könnte einen in der Jagd danach aufhalten.
Es waren falsche Wertvorstellungen, die sie hatten! Das wurde Ina hier mehr und mehr klar. Und das Baby, das wollte sie haben! Mochte Carsten sich dazu stellen wie er wollte.
Ach, Carsten! In Gedanken sprach Ina mit ihm, auf ihren einsamen Wegen: Auch wenn es kein Wunschkind ist, wollen wir es nicht lieben und behüten und dankbar sein, daß wir Leben weitergeben werden?
So wurde es Freitag, am Dienstag war sie gefahren. Ina war entschlossen, auch über das Wochenende noch zu bleiben, um weiter Kraft zu schöpfen für das, was zu Hause doch wieder auf sie zukommen würde. Sie schlief hier so gut wie seit langen Zeiten nicht, und die netten Wirtsleute verwöhnten die blasse Großstädterin mit allem, was die Küche nur zu bieten hatte.
Es war der erste richtige Sonntag, der nun endlich auch Wärme mit sich brachte. Ina war an diesem Nachmittag einen Wanderweg gegangen, der über einen Wiesenpfad am Waldrand entlangführte, wo sie Vogelgezwitscher und Kuckuckrufe begleiteten. Dieser Rundweg endete an dem idyllischen Friedhof mit der Dorfkirche.
Ina hatte die ersten Schritte auf dem Kirchweg hinab in den Ort getan, als sie dort auf der stillen Hauptstraße einen ihr wohlbekannten Wagen langsam dahinfahren sah. Carstens Wagen!
Heiß wallte es in ihr empor. Erste jähe Freude wich einem Gefühl der Panik. Nicht jetzt schon – nicht Auseinandersetzungen und Kämpfe. Ein wenig wollte sie doch das Glücksgefühl noch auskosten, das ihr JA zu dem Baby in ihrem Herzen ausgelöst hatte.
Ohne zu überlegen wandte sie sich um und floh in die Kirche, wo sie eine kühle Stille umfing. Vor dem Bild der Madonna mit dem Kindlein auf dem Arm faltete sie die Hände. Wann hatte sie zum letzten Mal gebetet? Auf einmal konnte sie es wieder.
»Bitte hilf mir, die richtigen Worte zu finden, um auch meinem Mann den Glauben zu geben, daß wir es nicht gering achten dürfen, Eltern zu werden«, sprach Ina leise zu ihr empor.
Als sie endlich in den Gasthof kam, winkte die Wirtin ihr zu. »Ihr Mann ist gekommen, Frau Faller«, sagte sie freudig. »Er ist schon nach oben gegangen.«
Carsten hatte schon ein paar Sachen auf das zweite Bett geworfen. Es gab hier nur Doppelzimmer, und auf dem Tisch prangte ein Strauß roter Rosen. Ina verharrte an der Tür. »Seit wann schenkst du mir rote Rosen?«
»Ja, ich weiß, es ist sehr lange her. – Freust du dich wenigstens, daß ich gekommen bin?«
»Das weiß ich noch nicht so genau, Carsten.« Mit einem eigenartigen Blick sah sie ihn an, den Mann, den sie liebte, trotz allem.
»Du hättest mich zumindest einmal anrufen können«, sagte er, doch es lag kein Vorwurf darin. Es klang eher sanft.
»Ich mußte einmal ganz abschalten. Ich war doch ziemlich am Ende.«
Er nickte. »Ina – ich habe viel nachgedacht. Ich meine, wir sollten es doch haben, unser Kind. Irgendwie werden wir es schon schaffen. meinst du nicht auch?« Ungewiß fragend erwiderte er ihren Blick.
Inas Lippen öffneten sich leicht, einen Moment starrte sie ihn ungläubig an, dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie warf sich an seine Brust. »Oh, Carsten«, stammelte sie nur, »oh, Carsten!«
Er stand verblüfft, bevor er seinen Arm um sie legte. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet.
»Du willst es auch?« fragte er mit angehaltenem Atem.
»Ja, ich will es! Ach Gott«, sie war so erleichtert, daß sie erst einmal tief Luft holen mußte, »und ich habe gedacht, ich müßte erst Mauern einrennen, bevor du dich auf meine Seite stelltest. Denn du hattest doch in letzter Zeit Mauern um dich aufgerichtet, Carsten, das mußt du zugeben. Ich habe sehr darunter gelitten, du.«
»Na ja, ich war zuerst vollkommen durcheinander. Das war schon ein Schrecken für mich, und für dich ja auch, Ina. Daran hatten wir doch nicht im Traum gedacht. Aber dann stellte ich es mir vor, wie es sein könnte – und gewisse Bilder wurden immer lebendiger vor meinen Augen, daß ich es mir schließlich, ganz im geheimen, beinahe wünschte. Ich fand mich selber verrückt, kannte mich nicht mehr aus.«
»Aber warum hast du denn nur nicht mit mir darüber gesprochen?« sagte Ina beschwörend. »Dein Schweigen hat mich fast zur Verzweiflung gebracht. Ich fühlte mich so alleingelassen, weißt du.«
»Vielleicht war das dumm von mir. Ich dachte, ich müßte dir die Entscheidung allein überlassen. Ich wollte dir meinen Wunsch nicht aufdrängen. Du wirst doch die Hauptlast damit haben.«
»Eine liebe Last«, versicherte Ina mit hinschmelzender Zärtlichkeit. Sie schmiegte ihre Wange an die seine. »Wie froh bin ich jetzt, daß du gekommen bist. Hast du auch gleich hergefunden und dir gedacht, daß ich wieder in der ›Linde‹ wohnen würde?« Carsten nickte, und sie fragte: »Wir bleiben doch übers Wochenende?«
»Sogar bis Mittwoch, wenn du möchtest«, antwortete er, die Hand auf ihr Haar gelegt.
Ina