»Ich komme nach«, meinte Astrid freundlich, als er die Türklinke schon in der Hand hielt.
Er hörte kaum hin. Warum hatte hier keiner Verständnis für ihn? Warum begriff keiner, daß er sich mit aller Kraft in die Arbeit stürzen mußte, um nicht immer von den Gedanken an Annalena in die Tiefe gezogen zu werden?
Sie war ja immer für ihn dagewesen. Daran hatte er sich gewöhnt. Und auch an das Schweigen, mit dem sie seine Affären ertrug. Ja, Annalena hatte alles ertragen, wenn es nur seinem Wohlbefinden diente. In letzter Zeit hatte sie ihn sogar kaum noch gebeten, auch einmal für sie dazusein. War sie nicht bewundernswert bescheiden gewesen?
Nun ja, sie hatte alles, was sie wollte. Sie konnte im Luxus schwelgen und sogar gewisse Freiheiten genießen. Aber sie hatte ihn eben zu sehr geliebt, um überhaupt einen anderen Menschen an sich heranzulassen. Nur Claudia war ihr immer ganz nah gewesen.
Diese Gedanken flatterten durch seinen Kopf, als er durch die Korridore zu Claudias Zimmer eilte. Er öffnete die Tür und bemerkte zunächst die vielen Blumen, die er ihr aus allen Städten, in denen er aufgetreten war, geschickt hatte. Mit einem Aufatmen näherte er sich dann ihrem Bett.
Zum erstenmal seit dem Tod ihrer Mutter lächelte sein Kind ihn richtig an. »Papa!« Sie hob ihm die Arme entgegen und die seltsame Verpackung, die von der linken Hüfte bis hinunter zum Fuß reichte, schien sie kaum zu behindern. »Mein Papa…!«
Fabian fühlte sich von diesem Eindruck überwältigt. Er hatte sich auf ein leidendes, vergrämtes Kindergesicht eingestellt und mit Klagen und Tränen gerechnet. Hatte sie keine Schmerzen? Und brauchte sie schon wieder diesen kleinen Recorder, über dessen schlechte Klang-Qualität er sich ärgerte? Oder wozu führte das Kabel zu dem Knopf in ihrem Ohr?
»Es ist englisch, Papa«, half sie ihm auf die Sprünge. »Astrid hat so ein Programm besorgt. Kinderbücher auf englisch und mit Kassetten, auf denen der Text erklärt wird. Weißt du, ich darf doch nicht so viel versäumen, ich kann lange nicht in die Schule.«
»Astrid?«
»So heißt Frau Dr. Hoffmann. Ich darf sie so nennen.«
»So.« Er zog ein Päckchen aus seiner Jackentasche. Auch das war eine Kassette mit seiner letzten Aufnahme der fünften Sinfonie von Gustav Mahler.
»Danke«, sagte Claudia nur und hob wieder die Arme, um ihn an sich zu ziehen. »Die höre ich dann später. Ist hoffentlich nicht Chopin«, fügte sie grinsend hinzu.
Von ihr ging eine so fröhliche Kraft aus. Fabian konnte es nicht fassen. Dachte sie nicht mehr an ihre Mutter? Annalenas Foto stand doch immer noch da. Woher nahm sein Kind diese Lebensfreude trotz des Verbands, trotz der Schmerzen, die sie erlitten haben mußte? Nein, so schnell durfte sie ihre Trauer doch nicht überwinden.
Er ließ sich von ihr umarmen und schmiegte sein Gesicht an seinen Hals.
»Du darfst deine Mutter nicht so schnell vergessen, Claudia.«
Claudia zuckte zur Seite.
»Du bist der einzige Mensch in meinem Leben«, fuhr er erregt fort. »Nur du weißt, wie alleine ich jetzt bin, mein Kind.«
Sie schluckte, und ihr Nacken wurde ganz steif.
»Du mußt schnell gesund werden, mein Töchterchen, damit du mir Mamas Liebe ersetzen kannst. Nicht wahr, das willst du doch? Sie fehlt mir so, unsere Mama. Ohne sie ist alles sinnlos. Und du weißt, wie sehr sie mich immer unterstützt hat… bei meiner Arbeit und sogar, wenn wir getrennt waren. Immer spürte ich ihre Liebe. Sie war mir alles, mein Seelenheil, mein Halt.«
»Ja, Papa.« Claudia hatte die Augen geschlossen. Sie spürte ihr Herz heftig schlagen, als ob es sie ermahnen wollte, doch endlich die Wahrheit zu sagen. Wie oft hatte sie sich in den letzten Wochen immer wieder vorgenommen, endlich über die letzten quälenden Minuten mit ihren Mutter zu sprechen, um sich dadurch von einer Lüge zu befreien!
Sie mußte ihrem Papa doch von Wolfgang Bosch und seinem Haus am Gardasee erzählen! Aber sie konnte es nicht.
Woher sollte sie die Kraft nehmen, ihre Mutter anzuschwärzen? Wie den Mut aufbringen, ihrem unglücklichen Vater noch den Glauben an die Liebe seiner Frau zu nehmen?
»Du wirst unsere Mama doch nie vergessen?« fragte Fabian und sah sie an. Seine Augen schimmerten feucht. Der Anblick traf Claudia bis ins Innerste. Sofort schüttelte sie den Kopf.
»Du hast sie doch auch sehr, sehr geliebt und gebraucht?«
»Klar«, kam es aufrichtig von ihren Lippen.
Sollte sie ihm gestehen, wie oft sie nachts das Licht anknipste, Annalenas Foto vom Tischchen nahm und mit ihr stumme Zwiesprache hielt? Wie oft ihre Mama ihr im Traum erschien und ihr am Tag trotzdem so furchtbar fehlte?
Nein, sie konnte es nicht, denn da war dieses Geheimnis, das sie bedrückte, und ihr zugleich eisern die Lippen verschloß. Wie lange sollte sie es noch mit sich herumtragen?
»Aber weißt du, Papa…«, Sie wollte es loswerden. Jetzt sofort, um endlich Ruhe zu finden.
»Ich weiß, natürlich«, unterbrach er sie. »Du hast mich vermißt. Aber ich war eine Woche in London und dann in Kopenhagen. Nächste Woche bin ich in New York, ich nehme Beethovens
Neunte erneut auf. Mit den Bostoner Symphonikern. Weißt du doch, sie waren dreimal hier in München. Und beim zweiten Konzert hast du mit Mama in der ersten Reihe gesessen. Weißt du noch? Sie hatte dir extra ein grünes Samtkleid gekauft. Und immer, wenn ich mich umwandte, sah ich meine beiden Hübschen, meine liebsten Menschen auf der Welt. Wieviel Kraft mir das schenkte. Sowie du wieder gesund bist, mußt du jedes meiner Konzerte besuchen! Versprichst du es mir?«
Sie lehnte sich zurück. Es war zwecklos! Ihr Vater würde die Wahrheit nicht ertragen. Und mit dem feinen Gespür eines Kindes, das seit Wochen ans Bett gefesselt ist, erkannte sie, daß sie ihm nur beistehen konnte, wenn sie sein Lügengebäude stützen half.
»Astrid sagt, ich muß im Winter in eine Klinik am Chiemsee. Und danach noch viel im Rollstuhl sitzen. Mein Hüftgelenk war ganz kaputt, Papa.« Sie lächelte dabei mutig.
»Das weiß ich doch, mein Liebling. Aber wir werden es schaffen. Wenn du erstmal wieder bei mir bist…«
»Dann brauche ich Hilfe, sagt Astrid.«
Sofort nickte er lebhaft. »Sicher. Wir brauchen eine richtige Haushaltshilfe. Ich werde mich rechtzeitig darum kümmern.« Er seufzte. »Leicht wird es nicht. Nur Mama konnte Menschen richtig einschätzen. Ihre Urteilskraft täuschte sie nie.«
Endlich lächelte Claudia. »Am liebsten wär mir Astrid.«
Er krauste die Stirn. »Die Frau Doktor? Aber, Claudia!«
»Sie ist so nett, Papa. Ich darf du zu ihr sagen wie zu einer richtigen Freundin. Ich hab’ sie schrecklich gern.«
So, Astrid, dachte Fabian Ossiander. Diese sympathische Frau im weißen Kittel, deren Blick auch etwas in mir berührt hat.
»Findest du sie auch nett?« Claudia lächelte voller Hoffnung.
»Was für eine Frage, Claudia!« erwiderte er mit belegter Stimme, weil er sich wieder ertappt fühlte. »Mein ganzes Denken und Fühlen ist bei unserer Mama. Wenn Frau Dr. Hoffmann nett zu dir ist, bin ich ihr dankbar. Ja, sehr sogar. Aber mehr empfinde ich nicht.«
»Aber sie ist echt super, Papa.«
»Super? So, und war deine Mama das nicht? War sie nicht immer für dich da? Hörte sich deine kleinen Sorgen an, empfing deine Freundinnen und verwöhnte dich mit tausend Kleinigkeiten?«
»Ja, wie Astrid es auch versucht.«
»Wie kannst du Mama nur so schnell vergessen?«
»Aber, Papa, ich vergesse sie doch gar nicht!« wehrte