Er folgte ihr sofort. Im Halbdunkel des kargen Flurs wirkten die Konturen seines Gesichts nicht ganz so markant. Dafür traten die grauen Strähnen in seinem üppigen, leicht gekrausten Haar stärker hervor. War dieser Mann in den letzten Wochen gealtert? Astrid wollte sich diese Frage nicht beantworten. Nur kein Mitleid mit diesem Vater, der sein krankes Kind auch noch mit Vorwürfen quälte!
»Ich bitte Sie, Claudias kleine Seele nicht zu sehr zu belasten, Herr Ossiander. Ich freue mich über jedes Lächeln von ihr. Und jedes Anzeichen ihrer kindlichen Unbekümmertheit ist ein Fortschritt. Laden Sie ihr keine Schuldgefühle auf, nur weil es so wirkt, als fände sie sich mit dem Tod ihrer Mutter ab. Claudia braucht ein wenig Heiterkeit und Hoffnung für die Zukunft. Kein Mensch wird sich zwischen sie und die Erinnerung an ihre Mutter drängen.«
Er sah sie verstört an. »Sie sind streng mit mir, Frau Doktor.«
»Kann sein. Aber ich habe Claudia in mein Herz geschlossen und bin für ihr Vertrauen sehr dankbar.«
»Ach, und ich? Wissen Sie, wie es in mir aussieht? Ahnen Sie überhaupt, was für ein wunderbarer Mensch meine Frau war?«
Sollte sie ihm eingestehen, wie schwer sie selbst am Tod Annalenas trug? Würde das überhaupt zu ihm durchdringen?
Astrid schluckte. »Claudia zuliebe nüssen auch Sie eines Tages diesen Verlust verschmerzen. Ihr Kind braucht Sie doch.«
»Ich brauche auch Hilfe, Frau Doktor!« schnaufte er, hob die breiten Schultern und stürmte durch den Korridor auf den Ausgang zu.
*
»Drei Dutzend sind es, Astrid«, grinste Kurt Wittek zwei Tage später, als die Kollegin zum Spätdienst ins Arztzimmer gekommen war und erstaunt vor dem üppigen Bukett aus weißen und rosa Rosen stand. »Der Herr Dirigent läßt sich nicht lumpen. Er weiß, was er seinem Ruf schuldig ist.«
»Mein Gott!« schmunzelte Astrid. »Wie nett von ihm! Bist du sicher, die sind von Ossiander?«
Kurt trat hinzu, holte einen Umschlag aus dem Bukett und reichte ihn ihr. »Hinten steht’s drauf: Büro Philharmie. Da hat er jemanden mit dem Aussuchen der Blumen beauftragt. Hoffentlich sind die Zeilen im Umschlag wenigstens von ihm selbst.«
Eine zarte Röte stieg in ihr Gesicht. »Spiel dich nicht zum Richter auf, Kurt. Ossiander ist kein Durchschnittsmann.«
»Das ist mir nicht neu. Er ist nur leider unterdurchschnittlich mit väterlichen Eigenschaften versorgt worden. Arme Claudia.«
»Er kann den Tod seiner Frau nicht verschmerzen. Das ist alles. Ich trage ja selbst noch schwer an meinem Versagen.«
»Nein, nein! Es war kein Versagen, Astrid. Was du für Claudia tust und empfindest, darf doch nicht auf Schuldgefühlen beruhen. Willst du ihr das auch noch zumuten?«
Astrid zog nachdenklich ein Schreiben aus dem Umschlag. Sie sah Kurt an und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Claudia wirklich sehr gern. Am liebsten würde ich sie gar nicht in die Reha-Klinik fortlassen.«
»Das verstehe ich. Wenn Claudia nicht mehr bei uns liegt, wirst du ihren Vater auch nicht mehr sehen«, neckte er sie.
»Dann glaubst du also, er gefällt mir?« Es klang kokett, aber in ihrer Stimme klang ein Beben mit. Und dann, als sie die Zeilen auf feinstem Bütten überflog, legte sich ein Lächeln der Gewißheit auf ihre fraulichen Züge.
Kurt beobachtete sie. Oder glich ihr Lächeln nicht sogar dem eines Kindes, das vor dem Kerzenschein des Tannenbaums steht und darunter das lange ersehnte Geschenk entdeckt und doch abwarten muß, bis es beherzt danach greifen darf?
Gott sei Dank war Annalena kein Kind mehr. Sie war eine tüchtige Ärztin, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Sollte sie dieser Brief in wenigen Sekunden auf eine Wolke aus Illusionen und Wünschen heben, mußte er sie eben wieder auf die Erde zurückholen.
»Ossiander bittet mich, ihn am dritten Oktober zum Abendessen zu begleiten«, flüsterte sie beeindruckt. »Vorher hat er keinen Termin frei, aber er besteht auf dieser Verabredung. Weil er mir für alles, was ich für Claudia tue, danken will.«
Kurt ächzte komisch. »Dann nimm es auch als Dankeschön und nicht mehr, Astrid. Fabian Ossiander ist kein Witwer wie viele andere. Erlaube ihm nicht, daß er sich mit seinem Dankbarkeitsgetue von seiner Verantwortung als Vater freikauft.«
»So?« lachte sie amüsiert. »Du mußt ja eine gute Meinung von den Männern haben. Als ob Dankbarkeit nicht ein wunderbarer Anfang sein könnte!«
Um nicht herablassend an seine Stirn zu tippen, verließ er vorher lieber das Zimmer. An der Tür stieß er mit Schwester Gudrun zusammen.
»Frau Doktor?«
Noch immer lächelnd blickte Astrid sie an. »Was ist?«
»Da steht ein Mädchen auf dem Korridor. Sie heißt Silke Schilling und behauptet, Claudia Ossianders beste Freundin zu sein. Darf sie zu ihr?«
»Silke Schilling? Na, endlich. Natürlich darf sie zu Claudia.«
»Aber Claudia hat gerade die Physio-Therapeutin bei sich.«
»Das macht nichts. Schicken Sie Silke nur herein. Claudia hat schon so oft nach ihr gefragt.« Sie schob den Brief in ihre Rocktasche und stand auf, um sich den Kittel anzuziehen.
Claudia haßte es, wenn die Physio-Therapeutin sich mit ihr beschäftigte. Dabei wußte sie, daß jede Übung nur einem, ihrem einzigen Ziel galt. Wollte sie sich nicht endlich wieder ohne Hilfe bewegen? Warum nur war das alles anstrengend und mühsam?
Es klopfte. Sofort schüttelte die Therapeutin Karin Kramer den Kopf. »Keine Störung, bitte!«
Schwester Gudrun öffnete trotzdem die Tür und schob dann ein hochaufgeschossenes Mädchen hinein.
»Silke!« jubelte Claudia und atmete völlig falsch. »Silke!«
»So hat das keinen Zweck, Claudia. Schluß für heute«, entschied Karin Kramer. »Dafür morgen zehn Minuten mehr. Sonst wird das ja nie was mit uns!«
Silke blieb eingeschüchtert an der Tür stehen. Aber kaum war Karin Kramer draußen, da stürmte sie mit ihrem Strauß bunter Dahlien auf Claudia zu. Der Strauß plumpste zu Boden und die beiden Mädchen lagen sich in den Armen.
»Mensch, Silke. Ich dachte, du hast mich vergessen.«
»Blödsinn!« Silke hatte eine neue freche Frisur und bunte Stecker in den Ohren. Sie setzte sich und blickte Claudia lange schweigend an, um die richtigen Worte zu finden.
»Ich bin schon seit zwei Wochen wieder hier. Aber ich fand nicht den Mut, zu dir zu kommen. Bitte, verzeih mir, Claudia.« Da Claudia nur zur Seite sah, setzte sie eifrig hinzu: »Meine Mutter hat schon mit mir geschimpft. Aber wenigstens sind wir zusammen zum Grab gegangen und haben Blumen hingelegt.«
»Zum Grab meiner Mama? Und? War da… ein Mann am Grab? Hast du nichts gesehen?«
»Ein Mann? Wen meinst du? Doch nicht etwa deinen Vater?«
»Nein.« Es war zwecklos. Claudia begriff es einmal mehr. Wie sollte sie Wolfgang Bosch beschreiben, ohne hinzuzufügen, woher und warum sie ihn kannte?
Silke überspielte ihre Verwirrung, in dem sie den Strauß Dahlien aufhob, ihn auf die Fensterbank legte und dann ein kleines Päckchen aus ihrer Tasche nahm. Das legte sie Claudia in die Hände. »Wir haben in der Klasse für dich gesammelt. Damit du die Stunden zählst, bis du wieder bei uns bist.«
Claudia öffnete das Etui. Eine lustige, bunte Armbanduhr lag darin.
»Dann haben wir abgestimmt und uns für die Uhr entschieden.«
Claudia preßte die Lippen zusammen, um nicht