Blomberg gab zu, dass es zahlreiche Punkte gibt, an denen die Evangelien voneinander abzuweichen scheinen. „Diese Abweichungen rangieren von kleinen Unterschieden in der Wortwahl bis zu offensichtlichen Widersprüchen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Evangelien nach antikem Standard extrem konsistent sind, wenn man die Elemente einkalkuliert, die ich vorhin genannt habe – Paraphrase, Kürzung, erklärende Zusätze, Auswahl, Auslassung. Und der antike Standard ist der einzige Standard, den man fairerweise zur Beurteilung ansetzen darf.“
„Wenn aber“, merkte ich an, „die Evangelien zu sehr übereinstimmen würden, dann würden sie dadurch nicht mehr als unabhängige Zeugnisse gelten. Man würde sagen, dass es eigentlich nur ein Zeugnis gibt, das alle anderen wie ein Papagei einfach nachplappern.“
Ich musste an Simon Greenleaf von der Harvard Law School denken, einen der bedeutendsten Rechtsgelehrten und Autor eines Standardwerkes zum Thema „Beweise“. Nachdem er sich mit der Übereinstimmung zwischen den vier Evangelien beschäftigt hatte, gab er folgende Auswertung: „Es gibt genügend Diskrepanzen, um zu zeigen, dass sich die Autoren vorher nicht abgesprochen haben. Und gleichzeitig finden sich solche wesentlichen Übereinstimmungen, die zeigen, dass alle unabhängige Autoren desselben großen Vorganges waren.“10
Aus der Perspektive des Historikers pflichtet der deutsche Wissenschaftler Hans Stier bei, dass Übereinstimmung in wesentlichen Daten und Abweichungen in Details eher Glaubwürdigkeit suggerieren, weil erfundene Berichte dazu neigen, völlig übereinstimmend und harmonisch zu sein. „Selbst der Historiker“, schreibt er, „ist besonders skeptisch, wenn ein außergewöhnliches Ereignis nur in Berichten geschildert wird, die völlig frei von Widersprüchen sind.“11
Auch wenn das stimmte, wollte ich die Schwierigkeiten nicht ignorieren, die durch die offensichtlichen Widersprüche in den Evangelien entstanden. Ich wollte dem Problem auf den Grund gehen, indem ich Blomberg zwang, zu einigen Widersprüchen Stellung zu nehmen, aufgrund derer Skeptiker die Glaubwürdigkeit der Evangelien leugneten.
Der Umgang mit Widersprüchen
Ich begann mit einer bekannten Heilungsgeschichte. „Im Matthäus-Evangelium heißt es, dass ein Hauptmann selbst kam und Jesus bat, seinen Diener zu heilen“, führte ich aus. „Doch Lukas hingegen schreibt, dass der Hauptmann einige der jüdischen Ältesten schickte, um Jesus zu bitten. Das ist doch ein offensichtlicher Widerspruch, oder nicht?“
„Nein, der Ansicht bin ich nicht“, erwiderte Blomberg. „Sie können sich das vielleicht so vorstellen: Heute hören wir in den Nachrichten den Satz: ‚Der Präsident hat heute angekündigt, dass …‘ Aber in Wirklichkeit wurde seine Rede von einem Redenschreiber verfasst und der Presse durch die Sekretärin übergeben. Mit ein bisschen Glück hat der Präsident das Geschriebene zwischendurch mal kurz überflogen. Und doch beschuldigt keiner den Nachrichtensender, dass er sich geirrt hat.
Ähnlich war es in der Antike selbstverständlich und akzeptiert, dass Aktionen bestimmten Menschen zugeschrieben wurden, während sie tatsächlich durch deren Untergebene oder Abgesandte durchgeführt wurden. In diesem Fall waren das die Ältesten des jüdischen Volkes.“
„Sie würden also sagen, dass Matthäus und Lukas beide recht haben?“
„Ja, genau das meine ich“, entgegnete er.
Das schien plausibel, also führte ich ein weiteres Beispiel an. „Was ist mit Markus und Lukas, die beide schreiben, dass Jesus die Dämonen in Gerasa in die Schweineherde schickte, während Matthäus sagt, dass es in Gadara war? Wenn man diesen offensichtlichen Widerspruch anschaut, kann man sich nicht vorstellen, dass man ihn plausibel erklären kann – schließlich geht es hier um zwei verschiedene Orte.“
„Nun, Sie sollten den Fall nicht zu schnell abschließen“, lachte Blomberg. „Es gibt eine mögliche Lösung: Das eine war eine Stadt, das andere eine Provinz.“
Das schien mir etwas zu leicht. Es klang so, als ob er über die Probleme, die dieser Punkt aufwarf, allzu schnell hinweggehen würde.
„Es ist etwas komplizierter“, sagte ich. „Die Stadt Gerasa lag nicht einmal in der Nähe des Sees von Galiläa. Doch dort sollen die Dämonen, nachdem sie in die Schweineherde gefahren waren, die Herde über die Felsen in den Tod gestürzt haben.“
„Okay, das ist ein Punkt für Sie“, sagte er. „Aber man hat die Ruinen einer Stadt ausgegraben, und zwar genau an der richtigen Stelle an der östlichen Seite des Sees von Galiläa. Die Stadt heißt heute Kersa, aber als hebräisches Wort, das ins Griechische übertragen wurde, kann dabei sehr gut etwas wie Gerasa herausgekommen sein. So kann sich das Ganze durchaus in Kersa – im Griechischen ‚Gerasa‘ – in der Provinz Gadara abgespielt haben.“
„Gut“, gestand ich zu, „ich gebe mich in diesem Punkt geschlagen. Aber hier habe ich ein Problem, das nicht so leicht zu lösen ist. Was machen Sie mit den Unterschieden in den Stammbäumen Jesu in Matthäus und Lukas? Skeptiker verweisen gerne darauf, dass sich diese Stammbäume hoffnungslos widersprechen.“
„Das ist ein weiterer Fall verschiedener Möglichkeiten“, sagte er.
„Zum Beispiel welche?“
„Die beiden einfachsten sind, dass Matthäus den Stammbaum Josefs wiedergibt, weil der Großteil seines einleitenden Kapitels aus der Sicht Josefs geschildert wird und Josef als Adoptivvater der gesetzliche Vorfahr war, durch den die königliche Abstammung Jesu belegt werden würde. Diese Themen sind für Matthäus wichtig.
Lukas hätte demnach die Abstammung durch Marias Linie aufgezeichnet. Und da beide aus dem Geschlecht Davids stammen, laufen die Stammbäume zusammen, wenn Sie weit genug zurückgehen.
Die zweite Möglichkeit ist, dass beide Stammbäume die Linie Josefs verfolgen, um die nötige Rechtmäßigkeit zu schaffen. Aber einer entspricht der menschlichen Abstammung Josefs – der Stammbaum von Lukas – und einer der rechtlichen Abstammung. Dann würden diese beiden Stammbäume immer an den Stellen abweichen, wo jemand keine direkten Erben hatte. In diesem Fall musste man durch verschiedene alttestamentliche Praktiken gesetzliche Erben bestimmen.
Das Problem wird noch größer, weil einige Namen ausgelassen sind, was nach dem Standard der antiken Kultur durchaus akzeptabel war. Und es gibt Textvarianten: Namen, die von einer Sprache in eine andere übersetzt werden, werden oft verändert und dann irrtümlich mit dem Namen eines anderen Menschen verwechselt.“
Blomberg hatte seinen Standpunkt deutlich gemacht. Es gab ein paar vernünftige Erklärungsmöglichkeiten. Selbst wenn sie nicht hundertprozentig stichhaltig waren, ließen sich die Evangelien doch miteinander in Einklang bringen.
Da ich unser Gespräch nicht zu einem „Wie-mache-ich-den-Wissenschaftler-um-eine-Antwort-verlegen-Spiel“ verkommen lassen wollte, entschloss ich mich, das Thema zu wechseln. Inzwischen hatten Blomberg und ich uns darauf geeinigt, dass es wohl am besten sein würde, jeden widersprüchlichen Punkt einzeln zu betrachten und zu überlegen, ob es eine vernünftige Lösung gab, die die Evangelien miteinander in Einklang bringen könnte. Außerdem gibt es eine ganze Menge wissenschaftliche Literatur, die teilweise bis ins letzte Detail untersucht, wie diese Unterschiede gelöst werden können.12
„Und“, erläuterte mir Blomberg, „es gibt Fälle, in denen man einfach sagen muss, dass man schon aus der Mehrheit der Textstellen Sinn gezogen und sie für vertrauenswürdig erklärt hat. Und so können wir einen Vertrauensvorschuss geben, wenn wir uns bei ein paar anderen Details nicht ganz sicher sind.“
5. Die Frage nach der Voreingenommenheit