Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit aß Angela mehr, als nur eine halbe Semmel.
»Darf ich fragen, woher Sie kommen?« erkundigte sich Sebastian, der den Augenblick für günstig hielt, vorsichtig das Gespräch auf Angela Holzers Lebensumstände zu bringen.
Die junge Frau starrte einen Moment versonnen auf den Kaffeebecher in ihrer Hand.
»Ursprünglich bin ich aus Rosenheim«, antwortete sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte.
»Rosenheim? Aber das ist ja gar net so weit von hier.«
»Ja. Allerdings hab’ ich dort nur bis zu meinem zwölften Lebensjahr gewohnt«, erzählte Angela. »Dann starben meine Eltern bei einem Verkehrsunfall, und ich kam zu meiner Tante. Eine Schwester meiner Mutter, die mit ihrem Mann in der Nähe von Passau lebte.«
Der gute Hirte von St. Johann schluckte unwillkürlich. So früh die Eltern zu verlieren, war ein hartes Schicksal.
»Möchten S’ darüber sprechen, wie es zu Ihrem Verkehrsunfall gekommen ist?« fragte er behutsam.
Seine Begleiterin hatte einen Grashalm ausgerupft und spielte damit.
»Da müßt’ ich wohl ein bissel weiter ausholen«, meinte sie.
Sebastian zuckte die Schulter.
»Es ist ein herrlicherTag«, erwiderte er, »und uns drängt nix. Wir haben alle Zeit der Welt. Wenn S’ darüber reden möchten – ich bin ein geduldiger Zuhörer.«
Angela Holzer überlegte.
Sollte sie sich wirklich einem, ihr im Grunde wildfremden Menschen, offenbaren. Sie hatte Pfarrer Trenker bisher nur zweimal gesehen.
Allerdings war da diese herzliche, offene Art, die es ihr leicht machte, aus sich herauszugehen. Sie hatte das Gefühl, diesem Mann ihr Herz ausschütten zu können, und vielleicht hatte er sogar einen Rat, wie es mit ihr weitergehen konnte.
Sie sah den Geistlichen einen Moment an, dann nickte sie.
»Ja, Hochwürden, ich glaub’, daß es mir ganz guttun würd’, mit Ihnen über alles zu sprechen«, antwortete sie. »Denn allein werd’ ich’s wohl net schaffen, mein Leben neu zu ordnen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, für Ihr Angebot.«
»Ich helf’ gern’, wenn ich kann«, sagte Sebastian. »Und dafür ist kein Dank notwendig.«
»Ich bin meiner Tante Luise heut’ noch dankbar, daß sie mich aufgenommen hat«, erzählte Angela. »Sie ließ mich das schlimme Geschehen um meine Eltern bald vergessen. Onkel Rolf, ihr Mann, und sie taten alles, um mir ein schönes Zuhause zu geben, und weil sie keine eigenen Kinder hatten, setzten sie mich später auch zu ihrer Erbin ein. Mit dem kleinen Vermögen, das meine Eltern mir hinterlassen hatten, war meine Zukunft gesichert. Ich besuchte die Schule, das Gymnasium und studierte später Literaturgeschichte. Es waren schöne und unbeschwerte Jahre. Und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich durch Vermittlung eines meiner Professoren, die Stelle einer Hausdame in einem gräflichen Schloß bekam.
Dabei war es eigentlich gar nicht meine Aufgabe, als eine solche zu fungieren. Vielmehr sollte ich der Gräfin von Haldenstätten als Gesellschafterin die Zeit vertreiben, sie auf Reisen begleiten. Und die herrliche Bibliothek im Schloß barg Schätze der Literatur, die man woanders vergebens sucht.«
Sie betrachtete den Grashalm zwischen ihren Fingern, ehe sie fortfuhr.
»Schloß Haldenstätten liegt an der Grenze zu Tschechien, beinahe so nah’, wie Sankt Johann an Österreich. Es gehören ausgedehnte Wälder und Ländereien dazu. Chef des Hauses ist Alexander Graf von Haldenstätten, dem in jungen Jahren ein ähnliches Schicksal beschieden war, wie mir. Auch er verlor die Eltern früh, und Tante Annemarie, die alte Gräfin, übernahm bei ihm die Mutterstelle.«
Sebastian war der dunkle Zug um ihren Mund, bei dieser Schilderung nicht entgangen.
»Der junge Graf und Sie...?«
Angela Holzer sah ihn nicht an, als sie schluckte und nickte.
»Ja, wir waren ein Paar«, antwortete sie.
Pfarrer Trenker hatte schon lange geahnt, daß ein Mann noch eine wichtige Rolle in dieser Erzählung spielte. Er war gespannt darauf, wie es weitergehn würde.
*
Gleich an ihrem ersten Abend auf Schloß Haldenstätten machte Angela die Bekanntschft des jungen Grafen, der von einer Geschäftsreise heimkam.
Es hatte nicht lange gedauert, vom ersten Vorschlag des Professor Rathmann, sich um die Stelle der Gesellschafterin für Gräfin Annemarie zu bewerben, bis sie die Zusage erhielt. Ein paar Briefe wurden gewechselt, dann trafen sie und die Gräfin sich in dem Haus des Professors, um sich persönlich kennenzulernen, und beide Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch. Die resolute Gräfin, die gerne Zigarillos rauchte und sich recht burschikos und lebenslustig gab, forderte Angela auf, gleich am nächstenTag im Schloß einzuziehen.
Dort bewohnte sie eine geräumige Zimmerflucht. Hausmädchen standen ihr zur Verfügung, und es sollte nicht lange dauern, bis sie sich an das unbeschwerte Leben im Schloß gewöhnt hatte.
Daß ihr das nicht schwerfiel, lag auch an Graf Alexander. Beim ersten Abendessen wurde Angela ihm vorgestellt, und von diesem Augenblick an war es um sie geschehen.
Liebe auf den ersten Blick. Wenn es sie wirklich gab, dann hatte Angela sie erlebt. Natürlich zeigte sie nicht, wie sehr sie den gut aussehenden und charmanten Graf liebte. Schließlich bekleidete sie im Schloß die Stelle der Hausdame und Gesellschafterin, und das Leben in Adelskreisen war ihr bisher verborgen geblieben.
Aber schnell merkte sie, daß es Alexander war, der ihr den Hof machte. Keine Gelegenheit ließ er aus, sie mit Komplimenten zu überschütten, und wenn auf dem Schloß eine Gesellschaft stattfand, dann bestand er darauf, zwischen ihr und seiner Tante zu sitzen.
»Kindchen, ich glaube, Sie haben meinem Neffen den Kopf verdreht«, sagte Annemarie von Haldenstätten eines Tages geradeheraus, wie es ihre Art war.
Angela Holzer spürte, wie ihr bei diesen Worten die Röte ins Gesicht schoß.
»Na, na, nun werden Sie nicht gleich verlegen«, meinte die Gräfin. »Ich finde, Sie sind hübsch und passen haargenau zu Alexander.«
Die beiden saßen im Park auf einer Bank, als das Gespräch stattfand. Annemarie von Haldenstätten beugte sich zu ihrer Gesellschafterin.
»Sie mögen ihn doch auch, nicht wahr?«
Angela schluckte und nickte unmerklich.
»Na also«, atmete Alexanders Tante auf. »Der Junge macht sich schon Sorgen, Sie könnten bereits einen anderen Mann erhört haben.«
»Ich? Aber wieso...?«
»Weil Sie immer so zurückhaltend sind«, tadelte die Gräfin. »Erinnern Sie sich nur an seine Einladung, vor ein paar Wochen, als er sie mitnehmen wollte, auf den Empfang bei der Familie Reuchach.«
Angela erinnerte sich tatsächlich. Alexander hatte sie darum gebeten, ihn zu begleiten.
»Es ist immer so trocken und langweilig bei denen«, hatte er gesagt. »Kommen Sie mit, Angela, ich bitte Sie. Dort wären Sie der einzige Lichtblick.«
Trotz seiner Worte hatte sie abgelehnt. Schließlich wußte sie, daß Alexander von Haldenstätten mit der ältesten Tochter derer von Reuchach so gut, wie verlobt war. Sie hätte sich bestimmt äußerst unwohl dort gefühlt.
Um so verwunderter war sie, jetzt von der Gräfin zu hören, daß deren Neffe augenscheinlich sein Herz an sie, Angela Holzer, verloren hatte.
Den Rest des Tages verbrachte sie wie in einem Traum, und als Alexander am Abend aus dem Büro heimkam, da traute sie sich kaum, ihm unter die Augen zu treten.