Das Ziel hieß Balkan. Er konnte dem nicht Widerstand leisten, er folgte ihm, als er gerade das einunddreißigste Jahr vollendet hatte. Aus den Vorschlägen, die ihm das Reisebüro präsentierte, suchte er sich absichtlich jene Reise heraus, die ihn am gemächlichsten dorthin führen würde, wo die Erfüllung lockte. Er wollte – ganz instinktiv – wissen, eigentlich besser verstehen, was da »gespielt« wurde.
Was das kosten sollte, war ihm nicht wichtig. Das spielte einfach keine Rolle, er buchte die Senatorsuite, denn er wollte es bequem, ja luxuriös haben, wie er es auch im täglichen Leben gewohnt war.
Die Reise begann am 14. Juli, einem Sonntag.
Das Ziel: Der Unterlauf der Donau.
*
Die Stadt Passau empfing sie an jenem Sonntag mit strahlend-blauem Himmel. Für einen Julitag war es fast schon zu heiß; das Thermometer am Bahnhof zeigte um die Mittagsstunde bereits 33 Grad. Der Shuttlebus zum Schiff, den sie gebucht hatte, würde sie erst in zweieinhalb Stunden aufnehmen und zur Anlegestelle bringen. Da sie das schwere Gepäck, zwei Koffer, per Zubringer-Service geschickt hatte, war sie unbeschwert. Sie beschloss, das Handgepäck in einem Schließfach zu verstauen und ein wenig durch die Stadt zu bummeln.
Da sie keinen Stadtplan zur Hand hatte, fragte sie kurz entschlossen nahe des Bahnhofs einen Taxifahrer nach dem Weg zum Dom. Sie hatte schon viel gehört über dieses gotische Bauwerk mit seinen drei Zwiebeltürmen, dem spätgotischen Chor und der üppigen barocken Innenausstattung. Über eintausend Skulpturen befanden sich angeblich im Kirchenschiff und den Seitenkapellen. Aber wovon alle in Passau und auch außerhalb schwärmten, war die Orgel. Die größte Domorgel der Welt, die der Organist hier ertönen lassen konnte. Heute am Sonntag bestand vielleicht die Chance, zuzuhören. Und sei es nur von außen.
Unterwegs ließ sie sich von einem kleinen italienischen Café am Ludwigplatz locken, wo man draußen sitzen und einen Cappuccino oder ein kühles Getränk zu sich nehmen konnte. Es herrschte reger Betrieb; sie ergatterte gerade noch einen freien Tisch mit zwei Stühlen. Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatte, ein Tellergericht Spaghetti und einen leichten Abruzzenwein sowie danach einen doppelten Espresso, sah sie sich auf dem Platz um.
Dass sie diese Flusskreuzfahrt unternehmen konnte, war einem Preisausschreiben zu verdanken, dass sie gewonnen hatte: Angelika Neubert, gerade einmal 23 Jahre alt.
So nebenbei hatte sie die Ausschreibung gelesen, die im Eingangsbereich der Sparkasse auslag, wo sie ihr Gehaltskonto unterhielt. Es ging um Begriffe, die sie als Bankkundin wissen sollte. Sie hatte mehr willkürlich, als mit Bedacht die Fragen beantwortet und natürlich keineswegs damit gerechnet, unter den Gewinnern zu sein. Aber genauso war es gewesen: Den ersten Preis hatte sie gewonnen: Eine Fahrt auf der Donau mit einem Kreuzfahrtschiff bis in das sagenumwobene Donaudelta hinein, all inclusive.
Daraufhin hatte sie ihren Jahresurlaub genommen und sich deswegen unter der Kollegenschaft in dem Import-/Exportbüro, wo sie in Frankfurt arbeitete, durchsetzen müssen. Schwer genug war’s gewesen. Doch nun saß sie da, in der Dreiflüsse-Stadt Passau, und wartete auf das Ablegen des Schiffes. Dass sie eigentlich zum Dom wollte und die weltberühmte Orgel dort auf ihr andächtiges Zuhören wartete, war ihrer Aufmerksamkeit entschwunden. Sie genoss einfach nur, hier sitzen zu können, ohne die Hektik um sich herum, wie es der Berufsalltag eben so mit sich brachte.
»Sie erlauben?« Eine weibliche Stimme unterbrach ihr Sinnen.
Sie schreckte auf, wie aus einem Traum. »Äh, ja, natürlich …«, stammelte sie aufblickend. Vor ihr stand eine ältere Dame, vielleicht Mitte der Fünfziger, eher korpulent als schlank, jedoch von gepflegtem Aussehen, die sich den Stuhl sorgfältig zurechtrückte und sich aufatmend darauf niederließ. Ungeachtet der Hitze trug sie ihr braunes Haar sorgfältig onduliert; einige helle Strähnchen sorgten für Abwechslung.
»Heiß ist es«, war ihre erste Bemerkung, und: »Wo haben Sie diese entzückende Bluse her? Sie ist mir gleich aufgefallen, als ich nach einem freien Sitzplatz gesucht habe.«
»Das freut mich«, sagte Angelika automatisch, denn zur Höflichkeit hatte sie ihre Mutter immer angehalten. »Ja, es ist heiß heute.« Zur Frage nach ihrer Bluse äußerte sie sich nicht, denn sie hatte sie bei einem Resteverkauf erstanden, sehr preiswert, doch das ging niemanden etwas an. Aber schön war sie, ohne Frage, und raffiniert im Schnitt.
»Diese Hitze ist einfach mörderisch. Man wünschte, am Nordpol Urlaub machen zu dürfen«, sagte die Neuangekommene. »Ich bin Eugenie Schmitz-Wellinghausen. Und ich bin nicht von hier, falls Sie das fragen wollen. Ich bin gebürtige Rheinländerin und berufliche Umstände haben mich hierher verschlagen.«
Angelika musste lachen. »Das ist einmal eine originelle Vorstellung«, sagte sie. »Danke, dass Sie mich aufheitern. Ich sitze nämlich hier und brate in der Hitze, während ich darauf warte, dass mein Schiff ablegt.«
»Was für ein Zufall!« rief Frau Schmitz-Wellinghausen und klatschte in die Hände, was den Kellner herbeibemühte, bei dem sie sofort eine Apfelschorle und eine kleine Portion Ravioli bestellte. Dann wandte sie sich wieder an Angelika: »Ich muss auch die Zeit totschlagen, bis ich losziehen kann. Wie heißt denn Ihr Schiff?«
»Es ist die ‚Danubia Queen‘ und sie liegt an der Anlegestelle zwei, etwas außerhalb der Stadt.«
»Das gibt es doch gar nicht!« rief Frau Schmitz-Wellinghausen. »Genau damit werde ich auch unterwegs sein. Dann warten Sie also auch auf den Shuttlebus, der nachher vom Hauptbahnhof zur Donau fährt.«
»Na, so was!« Angelika wunderte sich. Zufälle gab es. Andererseits war es nett und angenehm, mit jemandem die Zeit zu verplaudern, die sie sowieso abwarten musste.
»Sie machen die ganze Fahrt mit?« fragte sie und wagte nicht daran zu denken, wie wohl ihre Frisur diese Hitze überstand. Sie trug ihr naturblondes Haar kurz, doch da es sehr fein war, klebte es bei solchen Temperaturen rasch an der Kopfhaut. Und das sah einfach scheußlich aus.
»Aber natürlich!«, war die Antwort. »Bis ins Donaudelta hinein.« Regine Schmitz-Wellinghausen rührte gedankenverloren in ihren Ravioli, die der Kellner inzwischen vor sie hingestellt hatte. »Sie ebenfalls?«
»Ja, da freue ich mich auch schon drauf«, bestätigte Angelika. »Und diese Vogelschwärme …«
»Vögel werden wir genügend sehen, da bin ich sicher.« Dann schwiegen sie und betrachteten das rege Treiben auf dem Platz vor ihnen, ein Schild wies ihn als Ludwigsplatz aus, nicht ohne sich an ihren Speisen und Getränken zu laben.
Sie hatten kaum fertig gegessen und ausgetrunken, da hatte sich Angelikas Gegenüber bereits erhoben. »Ich denke, wir sollten uns allmählich …«
Im Aufstehen hatte sie ihren Stuhl nach hinten geschoben und dabei einen Passanten angerempelt, der es offensichtlich eilig hatte, im Zentrum der Stadt Besorgungen zu machen.
»Was erlauben Sie sich eigentlich?« schnaubte der hochgewachsene Mann, der offensichtlich Mühe hatte, trotz seines Gehstockes das Gleichgewicht zu wahren. »Einen behinderten Mann so zu …«
Frau Schmitz-Wellinghausen hatte sich rasch umgedreht und rief nun in einem plötzlichen Erkennen: »Sie sind es! Was für eine Überraschung so früh am Tage, mit Ihnen habe ich nicht gerechnet!«
»Sie kennen mich doch, Frau … wie war noch Ihr Name?« Er deutete mit der rechten Hand in ihre Richtung, ein Glied des Zeigefingers fehlte.
Angelika konnte dem ihr Unbekannten ansehen, dass er offensichtlich ihre neue Bekanntschaft nicht ernst nahm, sondern sich über sie lustig machte.
»Aber ich bin doch …«
»Ich weiß, ich weiß …«, jetzt lächelte der Unbekannte