Der Flur des Sielhauses lief mit starkem Gefälle nach hinten ab. Eine Erklärung konnte er den Erläuterungen zu den Fotos entnehmen, die an der Wand hingen: Danach sollte das vorn eingedrungene Hochwasser hinten wieder ablaufen.
Der Hafen hatte früher bis an das Gebäude herangereicht. Der spätere Ausbau des Hochwasserschutzes mit dem vorverlegten Deichdurchlass und dem Schöpfwerk hatte das Dorf vor Hochwasser bewahren sollen, das kleine Gebäude war dadurch vom Hafen abgeschnitten worden.
Stimmen drangen aus einem Raum, und er öffnete die Tür.
Der Schankraum war sehr klein. Neben der Theke befand sich eine Art Kaufmannsladen. Die Wirtin zapfte gerade ein Bier und bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Da staunen Sie, was? Hier haben früher die Schiffer ihre Kluntjes gekauft und anschließend noch ein Bier getrunken.«
»Ist hier dieser Vortrag wegen der Emsvertiefung?«
Die Wirtin sah ihn über den Brillenrand an. »Im Nebenraum, geht gleich los. Aber passen Sie auf die Stufe auf. Möchten Sie etwas trinken?«
Mit einem Bier in der Hand betrat er den kleinen Versammlungsraum und wäre fast der Länge nach hineingestolpert. Den Sturz konnte er verhindern, aber die Hälfte seines Bieres spritzte auf zwei Männer, die ihn daraufhin finster ansahen. Er entschuldigte sich und setzte sich auf einen freien Stuhl.
Ein Mann im Fischerhemd ging an das Rednerpult und stellte sich als Mitglied des Naturschutzbundes vor. »Ich darf heute Abend auch einige Vertreter der Deichbehörde und des Wasseramtes begrüßen. Die Herren sind bereit, einige Fragen zu beantworten.«
Er nippte an seinem halb vollen Bierglas und versuchte, sich auf die Ausführungen der Behördenvertreter zu konzentrieren.
»Meine Damen und Herren, die Wirtschaft verlangt nach immer größeren Schiffen. Der Markt bestimmt die Bedingungen, wir müssen baggern, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen.«
Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, und er bestellte sich schließlich das fünfte Glas Bier. Nervös bemerkte er, dass die Männer, die er mit Bier bespritzt hatte, ihn immer wieder beobachteten. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, für beide auf seine Rechnung ein Bier zu bestellen. Aber in diesem Moment hörte er das Wort »Arbeitsplätze« vom Vortragenden und es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl.
»Jetzt kommen Sie wieder mit diesem Totschlagargument Arbeitsplätze – und was ist, wenn die Deiche brechen?! Haben Sie schon mal die Flutmarken in Pogum und Wynhamster Kolk gesehen? Der Deich ist in der Vergangenheit dort schon gebrochen.«
»Dafür haben wir ja auch das Sperrwerk gebaut.«
»Sie meinen wohl den Staudamm.« Er redete sich immer weiter in Rage.
Zunächst stimmte man ihm noch zu. Einige andere Zuhörer baten ihn jedoch, sie auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Wutschäumend ignorierte er sie, und schließlich beschimpfte er die anderen Zuhörer. »Ihr seid doch zu blöd, um zu erkennen, was die wollen! Die Deiche werden wieder brechen und ihr Ignoranten sauft alle ab!«
Dem Nabu-Mann reichte es: »Wir haben hier das Hausrecht und wir möchten Sie bitten, diese Versammlung zu verlassen. Diese Art bringt uns hier nicht weiter. Also bitte!« Er wies auf die Ausgangstür.
»Ihr Idioten … Von mir aus könnt ihr alle ersaufen.« Er bezahlte seine Rechnung an der Theke und verließ das Sielhus.
Draußen hatte er sich zunächst einen Joint drehen wollen und nicht auf die beiden Männer geachtet, die ebenfalls die Kneipe verlassen hatten. Plötzlich wurde ihm von hinten die Jacke über den Kopf gerissen und ein Faustschlag traf ihn in den Magen.
Er wurde in den Schwitzkasten genommen und nach vorn gerissen. Der Arm um seinen Hals löste sich und gleichzeitig wurde er nach vorn gestoßen. Er stolperte vorwärts, verlor den Halt und rollte eine Böschung hinab. Kurz darauf schlug das Wasser des Siels über ihm zusammen. Er strampelte mit den Beinen und versuchte, sich von der Jacke zu befreien. Seine Füße versanken im weichen Boden des Siels, aber das Wasser war nur hüfthoch.
Als er die rutschige Böschung hinaufkletterte, hörte er das Lachen der beiden Männer, die ihn ins Siel geworfen hatten. »Lass dich hier nie mehr blicken, du Großmaul.«
Mit Schlamm beschmiert, keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht kroch er hoch. Auf dem Weg zu seinem Auto achtete er darauf, dass ihn niemand sah.
Als er endlich zitternd im Wagen saß, sah er zum Sielhus, wo einige Männer zusammenstanden und sich köstlich amüsierten. »Ich werde mich rächen«, murmelte er hasserfüllt. »Eines Tages werde ich es euch heimzahlen.«
Zu Hause sah seine Frau dann entsetzt zu, wie er verdreckt aus dem Auto stieg. Er schämte sich so sehr, und als seine Frau wissen wollte, warum sie ihn in den Kanal geworfen hatten, schrie er sie an. »Du bist schuld! Hast mich dahin geschickt! Wolltest mich loswerden!«
Die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank machte die Sache auch nicht besser und seine Frau wurde nun ebenfalls wütend. Sie hatten sich schon oft gestritten, aber diesmal überschritt er eine Grenze, als er ihr ins Gesicht schlug.
Diese eine Ohrfeige, deshalb musste man doch nicht gleich ausziehen …!
Seine Frau hatte weinend ihren Koffer gepackt und sich ohne ein Wort des Abschied in den Mercedes gesetzt. Alle hatten sich gegen ihn verschworen und sich von ihm abgewandt. Nun war er allein und hatte zur Gesellschaft nur noch den Alkohol, die Joints aus dem holländischen Coffeeshop und seine Wut.
Bevor sie hier eingezogen waren, hatte er alle Zeitungsausschnitte über die Ems gesammelt. Die Briefe, die er wütend an die Verantwortlichen gesandt hatte, waren unbeantwortet geblieben. Die darauf folgende Antriebslosigkeit und dann diese persönliche Katastrophe … Die folgenden Tage hatte er mit Selbstmitleid verbracht.
Er hatte Rachepläne geschmiedet und sie wieder verworfen.
Ja, er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, sich zu vergiften oder aufzuhängen.
Dann eines Abends kam die Wende, als er auf den Bildschirm des Fernsehers den Bericht über den schweren Unfall auf der Autobahn sah. Jugendliche hatten Steine von einer Brücke auf den fließenden Verkehr geworfen. Eine Frau war am Kopf getroffen worden und später an ihren schweren Verletzungen gestorben.
Er sah sich in seiner dunklen Küche um. Selbstmord, nein – so einfach würde er es ihnen nicht machen. Neue Energie durchströmte ihn und er begann damit, die für ihn so wichtigen Zeitungsausschnitte und Briefe zu sortieren
Dabei musste er immer wieder an den Steinewerfer denken und die Puzzelteile eines Plans setzten sich mühsam zusammen.
Ja, so gefiel er sich schon besser! Brücken führten nicht nur über Straßen, sondern auch über Flüsse. Nebel wäre günstig, sonst würde man ihn erkennen. Und worauf sollte er die Steine werfen?
Er hatte in seinen Unterlagen geblättert und einen Artikel über die zu häufigen Brückenöffnungen wegen der Baggerschiffe gefunden, den er aus der kostenlosen Sonntagszeitung ausgeschnitten hatte.
3.
Auf der Ems unter den Brücken
Henk de Olde manövrierte seinen Bagger gerade durch die Öffnung der Straßenbrücke, als ein explosionsartiger Knall auf dem Dach des Ruderhauses ihn erstarren ließ.
Ein zweiter Schlag zerstörte die vordere Scheibe. Ein Glasregen ging auf Henk nieder und er spürte einen Schlag an der Stirn. Obwohl sich in seinem Kopf die Gedanken und Befürchtungen nur so überschlugen, steuerte Henk instinktiv den Bagger sicher durch die Öffnung der Brücke.
»Gott verdammich!« Maschinist Pieter ten Broek kam auf die Brücke gerannt, wo der Schiffsführer blutüberströmt auf dem Steuerstuhl saß und nach draußen in die Dunkelheit stierte. »Henk, was zum Teufel ist passiert? Haben wir die Brücke gerammt? Wo ist Martin?«
Die Tür wurde aufgerissen, Martin schaltete